Das Kreuz mit dem Kreuz

»Die Gottlosen« von Paul Claudel am Maxim Gorki Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
Die Sache könnte schnell abgetan werden. Wer über fünfeinhalb Stunden Theater aufbietet, erhebt die natürliche Erschöpfung zum Richter über Aufnahmevermögen und Hingabewachheit. Der Körper ist ein anderer Theatergast als der Wille. Strenger, unerbittlicher, unabweisbar ehrlich. Die Augen fallen schneller zu, als ein Vorhang endgültig fällt. Stefan Bachmann hat am Maxim Gorki Theater Berlin Paul Claudels Stück-Trilogie »Die Geisel«, »Das harte Brot« und »Der Erniedrigte« inszeniert, stellte den Dreiteiler des nur sehr selten gespielten Autors unter den Titel »Die Gottlosen« und bietet ein sich fordernd ausbreitendes Prediger-Seminar mit pathetisch vollgesogenen, brausenden Wortkaskaden. Aber: Es sprechen eine Unbedingtheit und eine Unbeirrbarkeit aus dieser fast singenden, sakralen Glaubensdramatik, dass man schon wieder hellhörig wird über so viel Selbstbewusstsein aus Gottvertrauen - präsentiert als wünschenswerte Gegenwelt zu irdischer Verderbnis und geistigem Verfall. Claudels hoch fiebriger Katholizismus bezieht sich nicht vordergründig nur auf Orthodoxie und Kirche, sondern auf die Sinnfrage: Der Mensch ist nicht frei; das, was mit uns ist, hat Zwangscharakter, und unser Geheimnis besteht darin, dass wir einander nicht wirklich begreifen in allen Anlagen, Wünschen, Trieben und Sehnsüchten. Wenn da nicht die gnadenhafte Garantie wäre, dass die Existenz eines Gottes, hinterm finsteren Tor des Todes, aller erlebten Sinnlosigkeit ein rettendes Ende bereitet. Dies sei garantiert, so Claudel, durch den grausamen und dem Menschen absurd erscheinenden Tod Jesu am Kreuz. Die Todes-Chiffre zum Paradies. Dieses Kreuz wuchtet die Schauspielerin Anja Schneider zu Beginn in eine Vertiefung in der Bühnenmitte, bald aber wird es an einer der Seitenwände angebracht, wie man in Stall oder Abstellkammer Werkzeuge weghängt, die nicht mehr gebraucht werden. Die Bronze, in die das Gleichnis vom Sterbenden gegossen wurde, endet als Material für ein Geldgeschäft. Claudel (1868 bis 1955) zieht seine drei Stücke übers 19. Jahrhundert. Eine Familiensaga zwischen Napoleons Kaiserzeit, königlicher Restauration und Vorabend des Deutsch-Französischen Krieges. In einem Zisterzienserkloster wird der Papst versteckt, befreit aus napoleonischer Gefangenschaft. Seine Rettung wird ein Mädchenopfer fordern: die Erpressung einer Zweckheirat mit dem wissenden Polizeipräfekten. Eine unglückliche, unerfüllte Liebe als Preis für den geschichtlichen Dienst. Im zweiten Teil: bourgeoise Zügellosigkeit; die Familie des Präfekten als Spiegel einer bürgerlichen Verrottung im profitablen Kapitalismus. Im dritten Teil dann die Geschichte der nächsten Generation: wieder eine unheilvoll zärtliche Beziehung, zwischen einem Christen und einer blinden Jüdin, wieder unnatürliche Entscheidungsnot unterm Druck der Verhältnisse; die Zeit trägt das Gewehr in der Hand und Claudel, moralhart und aus dem Ewigen strahlend, ist Verkünder von etwas, von dem man ahnt, dass es der Mensch nicht tragen kann. Stefan Bachmanns Werk hat etwas vorbedacht Statuarisches. Er lässt vor einer Schieferwand spielen, die sich links und rechts wie die Seiten eines aufgeschlagenen Buches wölbt. Ein Lehrbuch. Oder eine Schultafel. Er bringt nicht nahe, er stellt hin. Er zerkleinert nichts mit einer Psychologie, die das Schauspiel gegenwärtig machte. Was er sich erlaubt, ist Ironie, die den zweiten Teil zu einer arg eintönig derben Gesellschaftsstudie mit Gruppensex herunterholt. Wo sich die Gestalten ungebremst in Bedeutungstext und Manifestation hineinreden, zeichnen sie vorher mit Kreide ihre Körperumrisse an die Wand: das Fleisch als bloße Hülle für den suchenden, irrenden, schwelgerischen, gefolterten, nach Erlösung schreienden Geist. Ankunft im Bürgertum: Ein Baby wird in einer Luxus-Shopping-Tüte hereingebracht. Bachmann spielt uns so hin und wieder Distanzierungsmittel zu - gerade auch dadurch, dass er die hohe, aufwallende Gefühls- und Moraltextur hoch und aufwallend darbieten lässt. Ansonsten: Bekenntnis zur Fremdheit einer aufgeladen rigoristischen Poetik, die gegenüber dem raffenden, täuschungsgierigen, geistlosen Menschen keine Gnade kennt. Man steht wie vor einem Brocken und hat nur diesen Blick hinauf oder entlang einer großen felsgleichen Fläche. Das ist erheblich quälend, verlangt Aushaltenskraft - und nötigt Ausstieg ab, aus jenem gewohnten Rhythmus, mit dem wir hören, wahrnehmen, verarbeiten. Und: Es wirkt in aller Fremdheit wie ein Appell - gegen alles Schnurrende dieser Zeit, gegen die Eilfertigkeit des Seichten, gegen den Fehlgebrauch von Lebenszeit, gegen die geübten Misstrauenstechniken einer glaubensgesäuberten Welt, die so elend der nackten bloßen Rechnungslegung verfiel. Es gibt ja Theatermacher, die laden uns regelrecht ein, über ihr Ausdruckspersonal in das Gelächter einzustimmen, das sie beim Lesen des Textes überfiel. Bachmanns war und ist so nicht gestimmt. Natürlich wehrt sich einiges gegen Claudel. Der abgetrennte Kopf etwa ist der letzte Gruß vom gefallenen Geliebten, dargebracht von dessen Bruder (im letzten Teil der Trilogie), geborgen in einem Blumentopf. Oh, Gott!, möchte man rufen. Aber da hat die Inszenierung die Entschlossenheit zur totalen Gegenwehr längst aufgeweicht; ach, sagt man sich, lass die Melodramatik doch ein wenig spielen mit dem kleinen Feuer des Kitsches - ja, Realismus wäre etwas anderes, der steckt, ein Jahrhundert später, Säuglingsleichen in Blumenkästen. Ein Theatererlebnis aus gewisser Entfernung. In den Schmerz, der verhandelt wird, ist man nicht durchgehend eingemummt. Aber es entstand eine Inszenierung der klaren Konturen, der unforcierten, fast geruhsamen Konzentration auf Text. Und einiger starker Akteure. Peter Kurth ist der Polizeipräfekt im Wandel der Zeiten. Die körperliche, auftrumpfende Behäbigkeit zugleich als Muster geschmeidigster Anpassung und Nutznießertalente; Kurth, dieser affenkomödiantische, ungebärdige Spieler des gleichsam nackten Bauches, dieser tolle, grunzende Stier des Stirnschweißes und der fliegenden Strähnhaare, dieser wüst-vehemente Zwischenkerl aus Wildnis und Großkind - er gibt einen gehbehinderten Uniformierten, dessen durchtriebene Kälte allen revolutionären und reaktionären Systemen jenen stinkenden Grund gibt, der sich Gesetz und Ordnung nennt. Als es dem erbgeilen Sohn nicht gelingt, den Alten zu erschießen, feixt sich der Präfekt in den Herztod hinein - Peter Kurth spielt gurgelnd und kreischend komisch den Gipfel der Gottlosigkeit: das Sterben ein einziger Lacher. Während den Frauen gleichförmige Zügelung, beinahe strenge Bewegungsarmut auferlegt ist (Anja Schneider als weißbekleidetes züchtiges Opferwesen, dann als forsche wie listige polnische Patriotin im Patronengurt-Outfit; Melanie Kretschmann als blinde, in metaphysischen Verzichtsprüfung glühende Jüdin), hat Sebastian Blomberg alle Chancen komödiantischer Vielfalt. Im ersten Teil ist er der dunkle, melancholische, leidende, aus dem Krieg kommende Adlige, sich nach Liebe und neu erwachender alter Zeit verzehrend; ein Schmerzensmann des gesellschaftlichen Vergehens; Blomberg spielt ganz aus verschatteten Augenhöhlen heraus, wie eine bis zum Äußersten gespannte Sehne, das Zerreißen ahnend, das hier ein Duelltod sein wird. Im zweiten Teil, durch den Zuschauerraum stürmend, gibt er die bravouröse Lustspielnummer eines schwäbelnden Buchhalters, Kerkelings Lokalreporter nicht unähnlich; im dritten Teil, bebrillt, unsicher, kafkaesk verhuscht und gekrümmt, ist er der unglücklich Eingepresste zwischen Liebe und religiös begründeter Selbstaufgabe. Der Abend - sich quälende Menschen, die auch dort, wo sie einer Glaubensdoktrin folgen, nicht zu Gott finden, weil sie nicht zu sich selbst finden - erscheint als mutig anstrengender Gegenentwurf zur schnellen, zupackenden, naiv entblößenden, mitunter verarbeitungsindustriellen Ästhetik des Intendanten Armin Petras; so ist er auch eine Antwort auf die voreilige Befürchtung, am Gorki Theater ...

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