Zehn Minuten zum Waschen
Proteste gegen radikalen Sparkurs in Alters- und Pflegeheimen in Frankreich
In ganz Frankreich wurde am Dienstag gegen die Zustände in der Mehrheit der Alters- und Pflegeheimen massiv gestreikt und demonstriert. Die Proteste richten sich sowohl gegen die Überlastung der Beschäftigten als auch gegen die menschenunwürdigen Zustände für die Heiminsassen. Die Misere betrifft öffentlich finanzierte wie private Heime gleichermaßen.
Zum ersten landesweiten Aktionstag dieser Branche hatten sieben Gewerkschaften der Beschäftigten des Gesundheitswesens aufgerufen, die Vereinigung der Direktoren der Alters- und Pflegeheime AD-PA erklärte sich damit solidarisch. Seit Monaten hatten die Gewerkschaften Alarm geschlagen wegen der sich laufend verschlechternden Arbeitsbedingungen in den Heimen, die zwangsläufig Konsequenzen für die Betreuung dort lebender alter und pflegebedürftiger Menschen haben. Das Durchschnittsalter der Franzosen und somit auch das der Heimbewohner steigt weiter an - damit haben sie auch mehr körperliche und psychische Leiden als früher. Doch dem wurde nicht durch mehr Betreuungspersonal Rechnung getragen. Im Rahmen der generellen Sparauflage im Öffentlichen Dienst wurde im Gegenteil nur zu oft sowohl beim Personal als auch bei der finanziellen Ausstattung der Heime der Rotstift angesetzt.
»Jeder von uns muss am Morgen bei 10 bis 15 alten Menschen die Morgentoilette machen«, sagte Sandrine Ossart, Hilfsschwester in einem Pflegeheim in Nantes und Mitglied des kommunistischen Gewerkschaftsbundes CGT, auf einer Pressekonferenz. »Für Waschen und Anziehen haben wir pro Person nur zehn Minuten Zeit. An der Schwesternschule wurden für diese Arbeitsgänge 40 Minuten pro Person veranschlagt.« Duschen sei wegen des Aufwands nur alle 14 Tage eingeplant, für Spaziergänge sei kaum einmal Zeit. »Das Essen wird oft zusammengerührt und mit dem Mixer zerkleinert, damit man die Alten schneller füttern kann.« Das sei »menschenunwürdig, sowohl für die Alten als auch für uns«, meint Ossart.
»Diese Probleme haben sich seit Jahren zusammengebraut. Wenn die Heime überhaupt noch funktionieren, dann liegt das einzig an der Aufopferung der Beschäftigten«, schätzt Claude Jarry vom Verband der Heimdirektoren ein. »Ich bin froh über die Mobilisierung der Mitarbeiter und ich hoffe, dass auch die Familienangehörigen der Heiminsassen ihr Stimme erheben.«
Die wichtigste Forderung der Gewerkschaften betrifft die personelle Besetzung. Heute gibt es im Schnitt sechs Betreuungspersonen für jeweils zehn Alte. Gefordert wird ein Verhältnis zehn zu zehn. Gesundheitsministerin Agnès Buzyn versucht seit Tagen, die Krise zu entschärfen. Beim demonstrativen Besuch eines - vergleichsweise gut ausgestatteten - Pflegeheims in Chevreuse bei Paris räumte sie »punktuelle Mängel« ein und verwahrte sich gegen »Generalisierungen« oder »überzogene Urteile«. Sie verwies darauf, dass im Staatshaushalt 2018 für die Heime 100 Millionen Euro mehr vorgesehen sind als 2017, davon 72 Millionen für Personal und 28 Millionen zur Unterstützung besonders bedürftiger Heime. Angesichts der aktuellen Kritik sagte sie weitere 50 Millionen Euro zu, doch die Gewerkschaften sprachen von »Brosamen« und »Provokation« und hielten am Aufruf zum Aktionstag fest.
»Es geht nicht nur um einzelne Heime, die Schwierigkeiten haben, sondern um eine generelle Misere«, sagt Jean-Claude Stutz, Vize-Nationalsekretär der Fachgewerkschaft Gesundheitswesen beim Gewerkschaftsverband UNSA: »Und letztlich läuft es darauf hinaus, wie die Nation mit ihren alten Menschen umgeht.«
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