Werbung
  • Politik
  • "Bild" und ausländische SPD-Mitglieder

Immer gut für eine hysterische Schlagzeile: Das Ausländerwahlrecht

Schon 2013 durften alle SPD-Mitglieder – auch die ohne deutschen Pass – über den Koalitionsvertrag abstimmen. Was damals kein Thema war, ist im Jahr 2018 eine große Story

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Julian Reichelt, Chefredakteur der »Bild«, ist empört. Sein Blatt hat »aufgedeckt«, dass »Ausländer« mitentscheiden dürfen, wer in Deutschland regieren wird. Warum? Weil sich beim SPD-Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag auch Parteimitglieder beteiligen dürfen, die keinen deutschen Pass haben. Reichelt findet, das sei »unanständig« und schade »unserer Demokratie«.

Was »Bild« nicht in die Schlagzeile packt, sondern nach allerlei Alarmismus erst auf der zweiten Seite erwähnt: Nur etwa 7000 der SPD-Mitglieder sind nicht deutsche Staatsbürger, bei 463.723 SPD-Mitgliedern, die über den Koalitionsvertrag abstimmen dürfen, sind das nicht einmal 1,5 Prozent. Und: Bereits 2013 durften alle Mitglieder der Partei, auch jene ohne deutschen Pass, mitentscheiden. Dies bestätigte ein Pressesprecher des SPD-Parteivorstandes dem »nd«.

Doch im Jahr 2018 ist die Stimmung im Land eine andere als 2013 – und »Ausländer« als Sündenböcke haben wieder Hochkonjunktur. Angetan von der »Bild«-Story zeigte sich dann auch – wenig überraschend – die AfD. Deren bayerischer Landesverband twitterte, die Demokratie müsse angesichts der drohenden Ausländermitbestimmung »verteidigt« werden. Sie verweist dabei auf Bedenken des Leipziger Staatsrechtlers Christoph Degenhart.

Degenhart hatte sich schon 2013 zu Wort gemeldet, als die Sozialdemokraten erstmals in einer Urwahl über einen Koalitionsvertrag abstimmen ließen. Seine Bedenken begründete er mit folgender Argumentation: Die Mitgliederbefragung habe »Elemente eines imperativen Mandats, das es nach dem Grundgesetz nicht geben darf«. Von Ausländern war damals noch nicht die Rede.

Heute wird derselbe Degenhart in der »Bild« so zitiert: In Deutschland dürfe den Bundestag wählen, »wer den deutschen Pass besitzt und 18 Jahre oder älter ist. Das gilt für SPD-Mitglieder nicht. Dort dürfen auch Menschen ohne deutschen Pass eintreten und mitbestimmen – sogar schon ab 14 Jahren!«

Man könnte nun fragen, was so dramatisch daran sein soll, dass Mitglieder einer Partei darüber abstimmen, was diese Partei tut: Eine Pflicht zur Regierungsbildung gibt es schließlich nicht.

Doch um diese Frage geht es »Bild« nicht. Vielmehr greift das Blatt mit Absicht ein Thema auf, das in der Bundesrepublik seit ein paar Jahren zuverlässig für Schnappatmung sorgt: das Ausländerwahlrecht. Tatsächlich darf in Deutschland nur wählen, wer einen deutschen Pass hat. Und von einer Aufweichung dieses Prinzips ist das Land, anders als die Reichelts und Degenharts orakeln, weit entfernt.

Nur bei Europa- und Kommunalwahlen sind Bürger anderer EU-Mitgliedstaaten, die in Deutschland leben, wahlberechtigt – weil dies so in den Maastricht-Verträgen verankert ist. Darüber hinausgehende Initiativen haben sich seit den 1990er Jahren immer wieder als chancenlos erwiesen. Beispielsweise versuchte ein Antrag von SPD, Grünen und Piraten in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2017 das Kommunalwahlrecht auf Nicht-EU-Bürger auszuweiten. Der Antrag scheiterte krachend am kategorischen Nein von FDP und CDU.

Die Vorstellung anzuheizen, dass »die Ausländer« irgendetwas in Deutschland mitentscheiden könnten, hat sich für das Schüren kollektiver Hysterien trotzdem immer wieder als nützlich erwiesen. Ein Beispiel: Die Satireseite »Eine Zeitung« meldete im Herbst 2015, Angela Merkel wolle »allen Flüchtlingen schnellstmöglich Wahlrecht geben«. Diese Falschmeldung wurde von vielen für bare Münze genommen und ging viral. Als im Februar 2017 eine Kommission unter Vorsitz der Integrationsbeauftragen der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, die Empfehlung aussprach, auch Nicht-EU-Bürger an Kommunalwahlen zu beteiligen, skandalisierte die damalige AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry: »Offenbar will Özoğuz Nägel mit Köpfen machen. Statt nicht bleibeberechtigte Migranten in ihre Heimatländer abzuschieben, soll ihnen in Deutschland der rote Teppich ausgerollt werden, inklusive Wahlrecht und deutschem Pass. Die SPD würde sich praktisch im Handstreich Millionen neue Wähler organisieren.«

Stimmen wiederum, die ein Ausländerwahlrecht fordern, haben es schwerer. Die LINKE beispielsweise will, dass auch Menschen wählen dürfen, die seit mindestens fünf Jahren ihren Wohnsitz in Deutschland haben. Damit vertritt sie unter den im Bundestag vertretenen Parteien eine Minderheitenposition. Vereine wie »Citizens For Europe« fordern ebenfalls mehr Partizipationsmöglichkeiten ausländischer Bürger. Sie verweisen darauf, dass mehr als 4,5 Millionen volljährige Menschen in Deutschland wegen ihres Passes weder an Bundestags- noch an Kommunalwahlen teilnehmen dürfen – und dass diese Menschen im Durchschnitt seit 19 Jahren in Deutschland leben, arbeiten, viele von ihnen sogar hier geboren wurden.

Nüchtern betrachtet ist dies der eigentliche Skandal und nicht die Tatsache, dass 7000 Menschen ohne deutschen Pass mitentscheiden dürfen, was ihre Partei tut. Zumal das Bundesverfassungsgericht bereits mehrere Eilanträge bezüglich des Mitgliederentscheides abgewiesen hat, also die Bedenken von beispielsweise Degenhart nicht teilt. Doch für eine »Bild«-Skandalgeschichte im Jahr 2018 ist der »Ausländer«, der mitbestimmt, offenkundig eine sichere Nummer.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!