Polizeiwillkür mit Todesfolge

»Seven Seconds« von Veena Sud

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Russland und die USA, das sind zurzeit Antipoden der Weltpolitik, deren Differenz fast schon wieder Vorwendeausmaß erreicht hat. Wie einst im Kalten Krieg scheinen die Weltmächte nicht mehr gemeinsam zu haben als ihre unerschütterliche Verachtung füreinander. Soweit die nationalstaatliche Theorie. Praktisch allerdings herrscht in den zwei Ländern bis heute etwas vor, das die globale Ordnung auch ohne Säbelrasseln grundlegend gefährdet: ein System gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, das Wohlstand, Glück, Gesundheit, das Überleben insgesamt an den sozialen Status knüpft. Keine guten Voraussetzungen für Brenton Butler.

In seiner trostlosen Trabantenstadt am Rande New Jerseys sind die Chancen des dunkelhäutigen Teenagers, seiner Unterschicht zu entkommen, daher praktisch gleich Null. Und just, als der Umzug in ein kleines Häuschen zumindest die unterste Stufe der Klassengesellschaft überwindet, wird er scheinbar grundlos von einem weißen Cop angeschossen. Versehentlich zwar. Doch was folgt, ist seit jeher eher Regel als Ausnahme. Die Staatsgewalt versucht, den Fall zu vertuschen. Ihre Opfer begehren kollektiv auf. Es kommt zum Zusammenstoß auf Bürgerkriegsniveau.

Personell mag sich Veena Sud diesen Kulturclash im strukturell rassistischen US-Amerika also bloß ausgedacht haben; dramaturgisch gleicht die Netflix-Serie einer fiktionalen Dokumentation. Wie in Miami 1989, wie in Los Angeles 1992, wie in St. Petersburg 1996, wie in Cincinnati 2001, wie in Beton Harbor 2003, wie in Oakland 2009, wie in Anaheim 2012, wie in Ferguson 2014, wie Charlottesville 2016, wie bei all der realen Polizeiwillkür mit Todesfolge ist der Streaming-Fall von »Seven Seconds« schließlich nicht bloß drastische Fantasie, sondern bitterer Alltag einer Gesellschaft, die zusehends aus den Fugen gerät. Veena Sud (»The Killing«) musste daher nur aufmerksam die Breaking News am Fernseher verfolgen, um genügend Stoff für ihr Drehbuch zu kriegen, das auf Yuri Bykovs russischem Film »The Major« von 2013 basiert. Kein Zufall, wie gesagt.

Im Zentrum der schmerzhaft realistischen Story steht Clare-Hope Ashity als (schwarze) Staatsanwältin K. J. Harper, die gegen den erbitterten Widerstand der (weißen) Elite Licht ins Dunkel der staatlichen Verschleierungstaktik bringen will. Ihr streng juristischer Ansatz steht jedoch stets im Schatten der drohenden Eskalation, die Brentons strenggläubige Mutter Latrice (Regina King) nach Kräften befeuert. Wie so oft hat Netflix zwar vorab kaum Ansichtsmaterial zur Verfügung gestellt, um sich ein Bild von der Serie machen zu können; doch die Trailer und Infos deuten bereits an, dass Regisseur Gavin O’Connor nach Veena Suds Vorlage kein stumpfes Schwarz-Weiß-Denken inszeniert.

Wer also gesündigt hat und wer nicht, das wird hier nie mit verschlagenem Blick oder süffiger Herzensgüte vorgegeben. Schuld und Tugend erwachsen stets auf dem schmalen Grat zwischen gerechter Vergebung und selbstgerechter Rachsucht. Willkür, so zeigt sich besonders im Umgang mit den vorwiegend weißen Polizeibeamten, widerfährt zuweilen auch dem Täter vom Opfer. Falls »Seven Seconds« diese Mittelposition zehn Teile lang durchhält, unterscheidet das die Serie womöglich von spannender, aber soziokulturell irrelevanter Melodramatik. Und kann womöglich dazu beitragen, das Verhalten aller Beteiligten in einem Konflikt zu verstehen, der sich durch Freund-Feind-Schemata gewiss niemals lösen lässt.

Verfügbar auf Netflix

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