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Jeremy Corbyn befürwortet Zollunion
Der britische Labour-Chef hat erstmals den genauen Brexit-Kurs seiner Partei präsentiert
Der Chef der mitgliederstärksten sozialdemokratischen Partei Europas ist kein bedingungsloser EU-Anhänger: Während der Volksabstimmungskampagne wollte er Brüssel »nur sieben von zehn Punkten« einräumen. Inzwischen beugt sich Jeremy Corbyn jedoch den Sachzwängen eines möglichst sanften Brexits und legt die Labour-Opposition auf die Fortsetzung einer Zollunion mit EU-Europa fest. Angst um eine bewachte binnenirische Zollgrenze und die Gefährdung des nordirischen Friedens dürfte dabei der stärkste Grund sein. Aber auch innerparteilicher Druck sowie die Möglichkeit, Theresa Mays Regierung eine Niederlage zuzufügen, tragen zur Entscheidung für die Beibehaltung einer Zollunion bei - auch über die angestrebte zweijährige Übergangsperiode nach dem Brexit hinaus.
Während die Premierministerin darauf beharrt, aus jeder Zollunion mit den EU-27 auszutreten, fordert Corbyn anscheinend eine Union besonderer Art. Weder die norwegische Lösung, noch das bisherige kanadische oder türkische Abkommen finden seine Zustimmung. Was seine EU-Partner von solchen Sonderwünschen halten, ist fraglich. Immerhin bietet Corbyn im Gegensatz zur Premierministerin die Antwort auf die verzwickte irische Grenzfrage: Mitgliedschaft in einer Zollunion würde die Anwesenheit von britischen und irischen Zollbeamten an der 500 Kilometer langen Grenze unnötig machen. Nach 30 Jahren des nordirischen Bürgerkrieges und dem Karfreitagsabkommen von 1998 will Labour keine Rückkehr der britischen Wachtürme oder des Straßenschildes im Grenzdorf Crossmaglen »Achtung - Heckenschütze bei der Arbeit«. Während Tory-Brexiter wie der Ex-Minister Owen Paterson das Ende des Karfreitagsabkommens frohgemut in Kauf nehmen würden, scheut sich der Labour-Chef mit Recht vor der Rolle des Elefanten im irischen Porzellanladen.
Achtzig Labour-Abgeordnete um den früheren Schattenminister Chuka Umunna fordern von Corbyn noch weitere Bewegung in Richtung EU: beispielsweise hegen sie den Wunsch, im EU-Binnenmarkt zu bleiben. Großbritannien treibt zur Zeit 43 Prozent seines Handels mit EU-Partnern, exportiert nach der Republik Irland allein mehr als nach Brasilien, Russland, Indien und China zusammen. Auch IndustriesprecherInnen wie Carolyn Fairbairn von der Confederation of British Industry stoßen ins gleiche Horn. Doch soweit wagt sich Corbyn nicht hervor. Er fürchtet, dass sich Brüssel gegen Labours Vergesellschaftungs- und Subventionspläne sperren könnte. Wie die Tories möchte Corbyn trotz der Zugehörigkeit zu einer Zollunion sich die Möglichkeit vorbehalten, mit anderen Staaten Handelsabkommen auf eigene Faust abzuschließen: die Partner dürften von diesem Wunsch wenig erbaut sein.
Den letzten Grund für Labours Wendung zu einer Zollunion bildet eine von konservativen Brexit-Gegnern vorgelegte Gesetzesnovelle, die das gleiche Ziel anstrebt. Die früheren Tory-Minister Dominic Grieve und Anna Soubry haben schon einmal gegen May die Zähne gezeigt: in Verbindung mit Labour, Liberalen und Nationalisten verlangten die Rebellen, dass nicht die Regierung allein, sondern das Parlament über die ausgehandelten Bedingungen entscheiden sollte. May verlor im Unterhaus knapp. Corbyn konnte sich die Möglichkeit einer weiteren Ohrfeige für die Regierung nicht entgehen lassen. Doch ist der jahrelange linke EU-Kritiker nicht vom Saulus zum Paulus geworden: eine zweite Volksabstimmung nach Bekanntwerden der vermutlich ungünstigen Austrittsbedingungen wird zur Zeit nur von der Mini-Fraktion der Liberalen gefordert. Aus Respekt für die Wählerentscheidung von Juni 2016 lehnt Corbyn dies ab: aus Angst vor dem Verlust von labournahen Brexit-Abhängern, meint er wohl im Stillen. Aber eine solche EU-Annäherung in Trippelschritten riskiert, die große Mehrheit von Labour-Wählern zu vergrätzen, die gegen Brexit sind. Kurz: Nicht nur May, auch Corbyn tanzt auf einem hochgespannten Seil.
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