Der venezolanische Albtraum

Oscar Torres erklärt, warum das Militär in Venezuela derzeit keinen Grund hat, den Putsch zu wagen

  • Oscar Torres, Caracas
  • Lesedauer: 3 Min.

Um das gegenwärtige politische Panorama Venezuelas zu verstehen, muss man sich in das Jahr 1998 zurückversetzen, als der sich eigentlich im Ruhestand befindliche Oberstleutnant Hugo Chávez die Präsidentschaftswahl gewann. Damals war das politischen Klima von der tiefen Enttäuschung und Ernüchterung geprägt, die der erbärmliche Zustand der öffentlichen Verwaltung und das skandalöse Ausmaß der Korruption um die Milliarden von Dollar, die aus der Erdölgewinnung in ihre Kassen flossen, auslösten. Die Wahlberechtigten waren angeekelt von ihrer politischen Führungsschicht, den Unternehmern, den Gewerkschaften, überhaupt von allen, die auf die eine oder andere Weise mit der öffentlichen Verwaltung in Verbindung standen.

In jenen Tagen sehnte sich die venezolanische Gemeinschaft nach einem starken Mann an der Spitze, der ausschließlich den wahren Interessen der Republik verpflichtet sein sollte. Aber der konnte unmöglich aus den Reihen der traditionellen Parteien kommen. Ging es doch gerade darum, einen Schnitt zu machen, Transparenz zu schaffen und die Demokratie neu zu erfinden. Eine Demokratie mit wirklicher sozialer Gerechtigkeit und der ausreichenden Kraft, um die gewalttätige Kriminalität und die schlimmsten Auswüchse der Korruption zumindest zu verringern. Darauf, und auf nichts anderes, setzen die VenezolanerInnen, die im Dezember 1998 zugunsten von Hugo Chávez stimmten.

Der Autor

Oscar Torres ist ein venezolanischer Jurist. Der 71-Jährige lebt und arbeitet in Caracas.

Als Hugo Chávez mit seiner Militärrebellion 1992 erstmals in der scheinbar ruhigen venezolanischen Gesellschaft auftauchte, herrschte im politischen Establishment, aber auch vielen Bereichen der Gesellschaft die Vorstellung, Militärputsche gehörten der Vergangenheit an. Und so überraschend die blutige Episode war, umso überraschender war, dass die Putschisten auf eine breite Sympathie in vielen Bereichen der Gesellschaft zählen konnten. Diese Erfahrung zeigt, dass die Wählerschaft sich durchaus vorstellen konnte, dass ein Militärherrscher hohe Ämter in Politik oder Verwaltung oder gar das Präsidentenamt der Republik übernehmen kann.

Seit der letzten Präsenz von Militärs in politischen Ämtern waren keine 40 Jahre vergangen. Und tatsächlich wurde und wird in verschiedenen Teilen der Bevölkerung die Amtsführung von General Marcos Pérez Jiménez (1950-1958) als die eines Nationalist und tatkräftigem Erbauer von Autobahnen, Aquädukten, Krankenhäusern sowie zahlreicher anderer öffentlicher Bauten anerkannt. Schon damals hat es nicht an jenem gemangelt, die saftige Zuwendungen von den Baufirmen erhielten. Geschichten, wie die aktuellen vom Bauriesen Odebrecht, sind in Venezuela alles andere als neu.

Und damals, 1993, begann Hugo Chávez seine politische Karriere. Mit dem traditionellen Misstrauen eines Militärs gegenüber Zivilisten rekrutierte der Comandante sein Personal für die zukünftige Ausübung hoher Regierungsfunktionen unter seinen Waffenkameraden. Heute, 20 Jahre nach dem Wahlsieg Hugo Chávez, kontrolliert das Militär alle strategischen Bereiche: Ernährung, Importe, Zölle, innere Sicherheit, Strom- und Energieversorgung. Seine wirtschaftliche Macht wurde mit der Gründung der militäreigenen Camimpeg im Februar 2016 noch erheblich erweitert, die inzwischen im Bergbau und bei der Öl- und Gasförderung eine zentrale Rolle spielt.

Heute bedarf es keines Putsches. Regime und Militär sind bei Politik und Wirtschaft untrennbar verflochten. Zugleich ist der Staat, dank seines hyperaufgeblähten Apparates, der größte Arbeitgeber. Aber auch dank der sogenannten Misiones, jener Parallelinstitutionen beispielsweise für Wohnungsbau oder Gesundheitsversorgung, die vom Chavismus ursprünglich geschaffen wurden, um der ineffizienten und korrupten öffentlichen Verwaltung entgegenzuwirken. Und offenbar bleibt den Militärs keine andere Möglichkeit, als die Reihen um das vom verstorbenen Kommandanten begonnene Projekt zu schließen. »Para atrás ni para coger impulso – Rückwärts nie, nicht einmal um Schwung zu holen«, scheint die Parole der Uniformierten zu sein.

Übersetzung: Jürgen Vogt

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