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Der Wert der Mehrdeutigkeit

Wider den verschlafenen Zeitgeist: Die junge Poesie rüttelt auf und ringt um Alternativität

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 4 Min.

Weltferne Sprachspielerei oder gar Elfenbeinturmdasein kann man der Lyrik dieses Frühjahrs nicht zuschreiben. Im Gegenteil: Selten zuvor waren Poeten so politisch und selbstbewusst wie in diesen Tagen. Was sie vor Augen führen, sind nicht mehr und nicht weniger als Machtstrukturen, die in der Sprache selbst verborgen liegen.

So zum Beispiel der spanischstämmige und im Schwarzwald wohnende Dichter José F. A. Oliver. Ohne dezidiert auf die Verwerfungen des postnationalen Zeitalters einzugehen, stellt er in seinem neuesten Band »wundgewähr« die verflachte Debatte um eine Leitkultur wortgewandt infrage: »So eigendeutsch ist meine dichtung/ so eigen-/ brotlerisch […] so eigen-du/ so eigen/ Wir«. Den sprachlichen Besitzanspruch der rechten Deutschtümler, die behaupten, die von Goethe und Schiller geprägte Kultur sei ihnen zu »eigen«, verkehrt Oliver in das Bewusstsein um die »Eigenartigkeit« jedes Einzelnen. Dem Einfachen stellt er das Prinzip der Mehrdeutigkeit gegenüber. »In einem böhmischen dorf geboren/ abgeschottet/ von einer spanischen wand«, weiß dieser spätmoderne Freiheitsdichter gekonnt althergebrachtes Separatismus- und Kolonialismusdenken lyrisch zu überwinden.

Während Oliver sich subtil an der Konstruktion ethnischer Differenzen abarbeitet, bemüht sich Mikael Vogel in seinem Buch »Dodos auf der Flucht. Requiem für ein verlorenes Bestiarium« um die Sprengung der künstlichen Grenze zwischen Mensch und Tier. Wie er zeigt, hat der sogenannte »Animal Turn« längst auch in die Lyrik Einzug gehalten. Überall finden sich in Gedichtbänden der letzten Jahre lebende oder, wie im Fall des Dodos, ausgestorbene Tiere. Nach Silke Scheuermann setzt mit Mikael Vogel nun schon der zweite Gegenwartslyriker dem flugunfähigen, vertrottelten Mauritius-Bewohner ein Denkmal. Über den letzten seiner Art schreibt er: »Als lebende Fleischkonserven auf lange Schiffsfahrten verschleppt, deine Eier ver-/ Schlungen von Menschen und anderen Schweinen, Ratten/ Affen.. darauf warten weggegessen zu werden - einen Meter emporragend ins/ Alleinsein« - vom Dodo gibt es nur noch Museumsbilder. Sein trauriges Schicksal ist derweil zum Verdikt für eine neue Mensch-Tier-Ethik geworden, die dem animalischen Wesen eine Seele zugesteht. Wie sehr die Beziehung zwischen den Spezies bislang von einseitiger Repression gekennzeichnet war, von der Massentierhaltung bis zu Versuchslaboren, findet sich treffend in einer Miniatur über die Wandertaube Martha. Erst nach ihrem Tod gelangt sie präpariert in einem Flugzeug in die Luft. Zu spät kommen die »Verlustängste«, mit denen das Gedicht endet. Immerhin: Lyrik als Möglichkeitsraum gewährt dem Tier ein Wiederaufleben in unserer Vorstellung.

Dass Gedichte der vermeintlich unveränderlichen Realität einen Gegenentwurf bieten können, zeigt auch das dritte herausragende Werk, nämlich Martina Hefters »Es könnte auch schön werden«. Im Mittelpunkt stehen die Besuche des lyrischen Ich bei seiner im Heim lebenden Schwiegermutter, die wie all die anderen Insassen längst in einer ganz eigenen Welt lebt. Immer wieder beschreibt die Autorin Geister, welche die Flure bewohnen. Hinter der tristen Wirklichkeit offenbart sich ein mirakulöser Kosmos. Erschlossen wird dieser nicht selten durch die Bewohner der Pflegestätte selbst, wenn sie etwa glauben, »der Fernseher habe gewisse Kräfte«. Man kann Einbildungen als Menetekel des stetigen Verfalls sehen, man kann sie aber auch als Reichtum an innerer Existenz auffassen.

Dass Verlust und Gewinn im Fantasieren eng beieinanderliegen, veranschaulicht auch die poetische Gestaltung des Textes an sich. Jenseits der Erzähllinie des Bandes über die Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und seiner Schwiegermutter zeichnen sich insbesondere die eingeschobenen Gedichte durch fragmentarische Züge aus. Leerstellen kommen Gedächtnislücken gleich. Poesie, die aber solcherlei Lücken kreativ zu nutzen weiß, findet im Pflegeheim, diesem intuitiv unpoetischen Ort, somit durchaus einen Freiraum.

Fazit: Die Krisen kommen und gehen, beunruhigen und verstören uns. Lyrik kann derweil eine Kur sein. Nicht im Sinne eines Eskapismus. Stattdessen vermittelt sie eine Haltung, die aus kritischem Geist und Hoffnung gleichermaßen hervorgeht.

José F. A. Oliver: wundgewähr. Matthes & Seitz, 224 S., geb., 24 €.

Mikael Vogel: Dodos auf der Flucht. Requiem für ein verlorenes Bestiarium. Verlagshaus Berlin, 252 S., geb., 15 €. Martina Hefter: Es könnte auch schön werden. Kookbooks, 112 S., geb., 19,90 €.

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