Wunsch nach großer Wut

Volker Lösch am Nationaltheater Mannheim: »Kleiner Mann - was nun?« von Hans Fallada

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Er verdirbt. Er schnitzt mit der Axt. Sein Theater ist unangenehm deutlich. Sturer Störer. Hintertreiber aller Opulenz, die man doch fordern darf! Da mühst du dich den hässlichen lieben langen Tag um ein verträgliches Gemüt, um eine ausgleichende Betrachtung der Dinge, denn die Welt ist nicht so einfach, wie einige tun - und dann kommt er: Wuchtet grobe Keile auf jenen Klotz Kapitalismus, der seine eigene Grobheit als zarten Reis des Naturgegebenen verkaufen möchte. Das Theater des Volker Lösch schrotet, kantet, es schreddert den Feinsinn, wo immer der lauert. Es ist unverhohlen plakativ in seinen nackten Anwürfen. Der Presslufthammer im Einsatz gegen alle Ruhekissen. Geradezu grässlich. Also unverzichtbar. Ein knorrig-knalliger Solitär im Hochwerthandel deutscher Theaterkunst.

Am Nationaltheater Mannheim inszenierte Lösch - in einer Fassung, die er mit Christoph Lepschy schrieb - Hans Falladas »Kleiner Mann - was nun?« Das Traumpaar im Albtraum: Lämmchen und Pinneberg. Zwei, die sich lieben, die heiraten, die sich durch die Inflation quälen, mittebedürftig, aber mittellos. Das Ganze ein Porträt jenes Allerletzten, das in ausweglosen Zeiten bleibt: der Aushaltkraft durch Liebe. Im Anprall der Armut: ein Luftsprung der Anmut.

Anmut interessiert Lösch nicht. Armut umso mehr. Das Schicksal von Pinneberg und Lämmchen ist schon vielfach interpretiert worden, es liegt eine lange, nuancenreiche Geschichte der Versenkung, des Mitgefühls vor, auf dem Theater, im Film, im Fernsehen - Lösch will Struktur, Einsicht, er will die knallhart schreiende Anklage. Denn eine uralte Frage ist an uns weitergegeben: Geld oder Liebe? Geld!, sagt das Leben ungerührt, und zahlt’s der Liebe heim. Die für bare Münze nehmen muss, dass sie entsetzlich arm dran ist.

Die Bühne von Carola Reuther ist eine Videowand in den Farben des ungarischen »Zauberwürfels« (in der hier präsentierten Welt sind die Würfel längst gefallen). Auf dieser Wand erzählen Menschen aus Mannheim in schnell wechselnden Clips aus ihrem Leben in sozialer Hatz und Hermetik. Zeitarbeiterinnen, Callcenter-Sklaven, Studierende: Protokolle aus einer Gesellschaft zementierter Ungleichheiten, die an kollektiven Fantasien verarmt. Hausmeister, Putzbefohlene, Lieferanten: Berichte von einer sozialen Dämmerungsstimmung, in der lohnenswerte Ziele zerbröckeln. Altenpfleger, Sicherheitsdienstler, Jobspringer aller Art: Nachrichten aus einem Betriebsklima, in dem sich die Krise der Solidaritäten weiter verschärft.

Vor dieser Wand: ein Gerüst aus vier Etagen, schmale Stege, darauf ein Hecheln hin und her - der Kampf von Lämmchen und Pinneberg um den Überlebensgroschen. Kein Interieur, nur diese Stege, Lauf- und Fließbänder für den Schweiß der Anstrengung, den Job zu behalten. Die Gedrücktheit der Atmosphären. Die Lichtblitzereien in Berlins Amüsierwelten. Manchmal blicken Lämmchen und Pinneberg zu den heutig Leidenden auf der Leinwand: Die Zeit wandelt sich, die Zeiten ändern sich wohl nie.

Benjamin Pauquet und Celina Rongen sind das junge Paar: tapfer trotzig, in Würde hilflos, noch in Rage redlich. Ragna Pitoll, Reinhard Mahlberg, Amelle Schwenk teilen sich in 13 Rollen: Pinnebergs billig-mondäne Mutter, ihr windiger Liebhaber, die wechselnden Vorgesetzten - Befehlsgeber des Leistungsdrucks, Egoisten der Arbeitsplatz-Selektion, alles kleine Willkür-Majestäten. Die kalten Herzen des notwehrhaften Egoismus. Gesichter, denen anzusehen ist, was uns vom Tier unterscheidet: Die Kreatur stellt sich bei Gefahr tot - der seelenlose, also lebend begrabene Mensch tut so, als existiere er.

Von Etage zu Etage, von oben nach unten: übers Leben reden, aber Geld meinen. Lauter Rituale des Rollenzwangs, der Uneigentlichkeit. Es gibt kein Erbarmen, kein Entrinnen, keine Seelenverwandtschaft. Jeder sein eigener Sklavenhalter, der die Sehnsüchte niederpeitscht und aushungert, bloß damit die Funktionstüchtigkeit nicht behindert wird. Eine Parade der Folien, der lebenden Austauschbarkeiten - was den Schauspielern wenig Möglichkeiten bietet, aber eine Typisierung etabliert, die kalt und grell und deprimierend genau von Entfremdung erzählt - von bürgerlicher Freiheit als Zwangsvollstreckung eines Herrschaftsverhältnisses. Das Menschen einsam macht. Im Roman, heute. Und Einsamkeit, das ist: kein Kino, keine Geselligkeit, kein Quäntchen Luxus, ach: kein Leben. »Bei Schulausflügen waren meine Kinder nie dabei, nur wenn die Schule bezahlt hat. Ich habe immer eine Ausrede gefunden, warum sie nicht mitfahren können.« So wird der Mensch hart: Er lebt nicht nur von der leeren Hand in den Mund, sondern auch von Kopf und Herz in die leere Hand.

In den Video-Interviews (Installation: Robi Voigt): konkretes Mannheim. Manche Gesichter sind gepixelt. Die Scham führt Regie. Du sitzt auf deinem Stuhl im Saal, und den Blicken dieser ausgebeuteten Menschen auf der Leinwand hältst du nur schwer stand. Du bist also ergreifbar - das ist noch das Einzige, das für dich spricht, der du aus der Sattheit kommst. Schon die Theaterkarte ist Sattheit, das Restaurant danach sowieso. Schiller: »Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze.« Die Nachwelt einer Aufführung, das ist morgen, und das Morgen wird sein: Fortsetzung der Sattheit. Heute aber ist, für zwei Stunden: Wut und Wunsch, alles möge anders sein.

Dieser tiefe Dreck der Sinnlosigkeit, der Freudlosigkeit, der Bewegungsunfreiheit. Es ist die Hölle, und dieser sozialen Unten-Welt wurde ein neuer, tünchender Name gegeben: Niedriglohnsektor. Klingt wie der demokratische Sektor, den man einst in der Frontstadt Berlin verließ. Wie schnell war man erschossen! Wie schnell ist man auch hier erschossen: »Hartz IV, das ist wie ein Todesurteil ... ich habe Angst, wenn ich zum Briefkasten gehe, vor Sanktionen vom Jobcenter ... ich habe so Panikattacken, ich werde nachts wach und mir hängt die Pumpe im Hals und ich weiß gar nicht, woher es kommt.« Ein Mann, nach jahrzehntelanger Arbeit arm, möchte »möglichst schnell in Demenz verfallen«: o Gnade, das eigene Leben vergessen zu dürfen.

Am Schluss tritt die Darstellerin von Lämmchen als Fahrradkurierin des Lieferdienstes »Foodora« auf und hält eine viertelstündige Kampfrede: Organisation! Vernetzung! Widerstand! Streik! Das quält in seiner Dauer, das versetzt dich peinigend auf Kundgebungen, die du sonst nie besuchen würdest. Aufhören!, möchtest du rufen, wir sind hier im Theater!, aber das Zuhören ist der Mindestbeitrag, den du jetzt leisten musst. Ich habe immer schon gespürt, dass Lösch-Abende nicht günstig auf mich wirken. Weil ich mich in eine ungebrochene Sicht, in eine Agitation hineinziehen lasse, gegen die ich mich eigentlich wehre.

Denn mir geht es gut: Ich habe Bier und mehr als nur Brot, ich bin gerüstet für Differenzierungen. Aber da kommt dieser Lösch und rumpelt. Er rumpelt und überrumpelt. Er haut dem Baum die Zweige weg, die in alle Richtungen wachsen. Er sieht nicht den Baum, er sieht den dicken Knüppel. Den Schlag(zu)-Baum.

Übrig bleibt, von besagter Regieaxt bearbeitet, der Stamm, und alles zielt gleichsam auf ein Stamm-Publikum, das in seinem Gefühlshaushalt - wenigstens für eine kurze Zeit - Erschütterung und Empörung zulässt. Vielleicht sogar Hass aufs Bestehende. Hass als unser Verbündeter in fremden Körpern. Während wir ein unentschiedenes Leben zwischen Diskursgeschwätz und Anpassungsschweigen vernünftig nennen. Vernünftig und demokratisch. Lösch jetzt in letztmöglicher Steigerung sehr undemokratisch: auf der Videowand erhobene Fäuste. Alle Zwischentöne erstickt, aber genug Atem für den entscheidenden Ruf: »Revolution!« Wäre solch exzessives Aufbegehren nicht eine logische, verständliche Reaktion derer, die von der Effektivitätsgesellschaft längst aussortiert wurden?

Auf der Leinwand sagt einer: »Welche gibt es, die sich wehren müssen ... man müsste eine große Wut kriegen.« Und Lämmchen und Pinneberg fragen sich, ob sie zu den Kommunisten oder zu den Nazis gehen sollen. Hoffnung hat hier nichts mehr mit der Zukunft zu tun, sie ist nur noch eine fade Nachgeburt der Schöpfung. Gut, dass es das Theater des Volker Lösch gibt, das Wahrheit nicht sagt, sondern schreit, zuhaut, bloßlegt. Sie uns als Brocken hinhaut »auf dem Freigang in der Spaßgesellschaft« (Volker Braun).

Nächste Vorstellungen: 18., 24. Juni

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal