Der programmierte Tod

Wie Störungen des Zellsterbens die Entstehung von Krebs- und Demenzerkrankungen beeinflussen. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Für die Existenz und Erneuerung eines mehrzelligen Organismus ist neben dem Wachstum von Zellen auch deren Tod unabdingbar. Oftmals gehen Zellen infolge zufälliger äußerer Einwirkungen wie Verletzungen oder Vergiftungen zugrunde. Aber auch das Eindringen von Krankheitskeimen kann sie zerstören. Bei solchen Prozessen, die unter der Bezeichnung »Nekrose« firmieren (von griech. nekrosis: das Töten), wird gewöhnlich die Membran der Zelle beschädigt. Dadurch fließt der Zellinhalt unkontrolliert in das umgebende Gewebe und löst eine Entzündungsreaktion aus. Je nach Gewebeart und Schadensausmaß kann die Nekrose durch Nachwachsen überlebender Zellen wieder abheilen. Häufig wird der abgestorbene Gewebeteil durch eine Narbe ersetzt.

Darüber hinaus können Zellen sich auch von selbst zerstören, ohne dabei das angrenzende Gewebe in Mitleidenschaft zu ziehen. Das heißt, Zellen begehen eine Art Suizid, wenn sie für den Organismus hinderlich oder gefährlich geworden sind. Gäbe es diesen programmierten Zelltod nicht, wöge zum Beispiel ein Mensch mit 80 Jahren allein aufgrund des Wachstums seiner Lymphknoten und Knochen über zwei Tonnen. Zudem würden genetisch defekte Zellen ihr geschädigtes Erbgut ungehindert weitergeben. Der programmierte Tod von Zellen ist aber auch die Voraussetzung dafür, dass ein Organismus während seiner embryonalen Entwicklung typische strukturelle Merkmale ausbilden kann. Wäre es dem Organismus dagegen nicht möglich, an bestimmten Stellen Zellen gezielt zu entfernen, kämen Menschen zum Beispiel mit Schwimmhäuten zur Welt.

Die häufigste Form des programmierten Zelltods ist die sogenannte Apoptose (von griech. apoptosis: das Abfallen, etwa der Blätter vom Baum). Dieses biologische Suizidprogramm, das einer genetischen Kontrolle unterliegt, wird entweder von außen angeregt (zum Beispiel durch Zellen des Immunsystems) oder kommt aufgrund von zellinternen Prozessen in Gang (etwa bei starken Schädigungen des Erbmaterials). Anders als bei der Nekrose, bei der die betroffenen Zellen anschwellen und schließlich platzen, führt die Apoptose zur Schrumpfung der Zelle und zur Fragmentierung der DNA. Übrig bleiben kleine membranumschlossene Säckchen, sogenannte apoptotische Körperchen, die von Fresszellen (Phagozyten) entsorgt werden.

Beeinträchtigungen der Apoptose können für betroffene Menschen tragische Folgen haben. »Manchmal sterben unsere Zellen, wenn wir das überhaupt nicht wollen, etwa bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer«, sagt James Ferrell vom Department of Biochemistry der Stanford University. Aber auch andere Krankheiten seien durch »zu viel« Apoptose gekennzeichnet. Aids zum Beispiel. Das krankheitsauslösende Humane Immundefizienz-Virus (HIV) regt im Körper von infizierten Menschen die Produktion von Substanzen an, die auch nicht infizierte Immunzellen in den programmierten Zelltod treiben. Dadurch sind HIV-Infizierte ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, Erreger abzuwehren, die für gesunde Menschen keine Herausforderung darstellen.

Tumore entstehen dagegen durch »zu wenig« Apoptose. Tatsächlich gelingt es Krebszellen, ihre eigene programmierte Zerstörung zu verhindern. Sie überlisten zu diesem Zweck das Immunsystem - mit einer raffinierten Strategie. Das heißt, um überleben und sich weiter teilen zu können, nutzen Tumorzellen selbst den Apoptose-Mechanismus. Mittels spezieller Proteine auf ihrer Oberfläche setzen sie sogenannte tumorinfiltrierende Lymphozyten, die ihrerseits darauf spezialisiert sind, Krebszellen anzugreifen, außer Gefecht. Dieser Prozess wird deshalb auch als »tumor counterattack« bezeichnet.

Obwohl die Apoptose weltweit intensiv erforscht wird, gibt der programmierte Zelltod Forschern noch immer Rätsel auf. Dazu gehört unter anderem die Frage, wie Zellen erkennen, dass es Zeit für sie ist, sich aus dem Körper zu verabschieden. Seit Längerem schon weiß man, dass die Aktivierung sogenannter Caspasen notwendig ist, damit die Zelle in die oben erwähnten apoptotischen Körperchen zerlegt werden kann. Unklar war bisher, wie dieser Prozess im Einzelnen abläuft und vor allem, mit welcher Geschwindigkeit das Todessignal innerhalb der Zelle übertragen wird. Denkbar wäre beispielsweise, dass sich der Zelltod durch Diffusion ausbreitet. Doch hier gibt es ein Problem. Da sich die Diffusion mit der Zeit verlangsame, sei sie für die Überbrückung größerer Distanzen nicht geeignet, erklärt James Ferrell.

Er hat zusammen mit seinem ebenfalls an der Stanford University forschenden Kollegen Xianrui Cheng versucht, das Problem experimentell zu lösen. Und zwar anhand von Eizellen des Krallenfrosches (Xenopus laevis), die mit einem Durchmesser von 1,2 Millimetern vergleichsweise groß sind. Zunächst entnahmen die Wissenschaftler den Froscheiern das Zellplasma, injizierten es in kleine Röhrchen und lösten künstlich das Apoptose-Signal aus. Dessen Ausbreitung konnten sie mithilfe einer fluoreszierenden Substanz optisch verfolgen. Über die Ergebnisse berichten Ferrell und Cheng im Fachblatt »Science« (DOI: 10.1126/science.aah4065). Da-nach breitet sich der Tod wellenartig im Zellplasma aus, und zwar mit einer konstanten Geschwindigkeit von 30 Mikrometern pro Minute. Das wären umgerechnet knapp zwei Millimeter pro Stunde. Um die Eizelle vollständig zu durchqueren, bräuchte die Triggerwelle also ungefähr eine halbe Stunde. Würde sich die Apoptose hingegen durch Diffusion ausbreiten, nähme der Prozess zehnmal so viel Zeit in Anspruch.

Auch bei intakten Froscheiern konnten die Forscher den gleichen Triggerwellen-Effekt nachweisen, den sie mit einer La-Ola-Welle im Stadion bzw. einer Reihe fallender Dominosteine verglichen: Während die Eizellen abstarben, kam es auf ihrer Oberfläche zu einer dunklen Kräuselung in der Pigmentierung, die sich mit konstanter Geschwindigkeit von einer zur anderen Seite der Eizelle bewegte. »Unsere Daten zeigen, wie die Apoptose sich über große Distanzen ausbreiten kann und wie wichtig Wellen für die Signalübertragung in Zellen sind«, schreiben die Forscher und verweisen darauf, dass man Triggerwellen auch in anderen Bereichen des Lebens findet, etwa bei der Immunantwort des Organismus sowie bei der Weiterleitung von Signalen im Gehirn. Obwohl das Phänomen weit verbreitet sei, hätten viele Biologen noch nie etwas von Triggerwellen gehört, meint Ferrell. »Aber ich wette, sie werden bald davon in Fachbüchern lesen.«

Die neu gewonnenen Erkenntnisse könnten nach Auffassung der US-Wissenschaftler zu Fortschritten in der Behandlung von Krebs- und Demenzerkrankungen führen. Dabei sei einerseits darauf hinzuwirken, dass in Tumorzellen das interne Suizidprogramm rechtzeitig starte. Andererseits gelte es, das massenhafte Absterben von Zellen im Gehirn von Alzheimerpatienten zu verhindern. »Beides wird nur gelingen«, betont Ferrell, »wenn wir genau verstehen, wie die Apoptose in menschlichen Zellen funktioniert.«

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