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Verschwiegene Radikalität

Christoph Heins »Das Narrenschiff«: Über die Blockaden der befreiten Menschheit

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 14 Min.
Allegorisches Kammerspiel: Szenenfoto von Christoph Heins »Passage« am Staatsschauspiel Dresden, 1987
Allegorisches Kammerspiel: Szenenfoto von Christoph Heins »Passage« am Staatsschauspiel Dresden, 1987

Eine ausgewogene Gesamtbewertung der DDR – seit einiger Zeit drängt es die Öffentlichkeit dazu: Katja Hoyers »Diesseits der Mauer« steht dafür, auch die voluminöse Walter-Ulbricht-Biografie von Ilko-Sascha Kowalczuk. Und Christoph Heins Roman »Das Narrenschiff« gilt als vorläufiger Höhepunkt dieser intellektuellen und literarischen Zeugnisse. Aber es gibt in Heins Roman eine tieferliegende Ebene als die DDR-Aufarbeitung, ein Gespür für die Blockaden der Geschichte, ihre Sackgassen und Abgründe, das die Story, die er erzählt, weit übersteigt. Hein verhandelt die Hürden, die die Selbstbefreiung der Individuen, die zugleich eine soziale wäre, zuverlässig sabotieren.

Das Gespür für diese Hindernisse verbindet »Das Narrenschiff« mit Heins radikalem Frühwerk und jenen Erzählungen, Essays und Theaterstücken, die zu DDR-Zeiten entstanden sind. Diese Radikalität ist keine der Form gewesen: Heins Texte, ob Roman oder Drama, sind seit jeher konventionell gebaut, leicht lesbar, genretreu. Nach 1990 gerieten seine Erzählungen bisweilen bräsig, langatmig, auch »Das Narrenschiff« hält die zu Beginn gesetzte Spannung nicht durch. Davon sollte man sich nicht ablenken lassen. Die Radikalität der Texte Heins kommt beiläufig daher, ist eine verschwiegene. Der Betulichkeit oder, früher, Nüchternheit der Texte ist sie, anders als im Fall vergleichbarer Texte von Heiner Müller oder Volker Braun, nicht anzusehen

Liest man Heins Texte chronologisch, beschreiben sie keine lineare Entwicklung, wie etwa von der Hoffnung eines Autors – auf eine sozialistisch reformierte DDR – zur Resignation: »Von der DDR wird nichts bleiben. Sie wird vergessen werden«, sagte Hein kürzlich im »Spiegel«-Interview. Stattdessen thematisieren sie von jeweils unterschiedlichen Positionen diese immer gleiche Blockade. Heins Texte, zumindest seine besten, handeln von der Übermacht herrschender Gewalt, die eben dadurch übermächtig wird, weil die Individuen deren Normen verinnerlicht haben. Ein Befund, der umso schwerer wiegt, weil er sich erst recht auf eine Gesellschaft bezieht, die sich als bereits emanzipiert wähnte, die sozialistische der DDR.

Der »gnädige revolutionäre Herr«

Es lohnt sich, diese Radikalität auch für unsere Zeit herauszuarbeiten, und deshalb soll dem »Narrenschiff« zunächst der Text Heins gegenübergestellt werden, der – sprachlich, thematisch – am weitesten weg scheint: »Die wahre Geschichte des Ah Q« von 1984. Die große Bühne der Revolution schrumpft zu einem Kammerspiel.

Unterhalten sich zwei Anarchisten, so jedenfalls nennt sie Hein. Sie kauern, lümmeln, hocken, langweiligen sich in ihrem Verschlag am Rande der Gesellschaft – einem ramponierten Tempel, den sie längst hätten reparieren sollen. Aber sie tun nichts. Sie reden. Sagt der eine, Wang: »Die Geschichte liebt Sprünge. Dialektik. Vom Niederen aufsteigend zum Höheren und abfallend ins Triviale.« Darauf entgegnet der andere, Ah Q, bloß: »Aha.« Und so geht es weiter. Wang: »Logik und Metalogik. Aus a folgt non a. Aristoteles, Pascal, Oxford. Hier Weltgeist, dort Paperback. Das Gedächtnis der Toten.« Ah Q: »Ich verstehe.« Wang: »Die Scheinfrage der Wissenschaft: Sein oder Nichtsein. Du kannst siebzig Jahre darüber nachdenken, und wenns hochkommt achtzig, dann ist diese Frage für dich entschieden.« Ah Q: »Das Ei des Kolumbus. Der Horizont hellt sich auf.« Aber das reicht jetzt schon, Wang, nicht nur selbsterklärter Anarchist, sondern auch, wie wir gesehen haben: Philosoph, »Theoretiker«, braucht eine Pause: »Ich bin völlig erschöpft.«

Sie kreisen weiter um sich, und es bleibt offen, ob Wang und Ah Q Zyniker sind oder hoffnungslos naiv. Sie sprechen schließlich von ihren Visionen. Wang: »Die tapferen Träume unserer Kinderjahre. Die süßen Totengräber, die uns am Gängelband der Hoffnung ins Grab geleiten. Aber verzweifeln wir nicht, wir haben Pflichten. Wir haben eine Bestimmung auf Erden.« Sie müssen die Revolution machen, sie sind doch Revolutionäre. Aber sie machen nichts, sie kommen nicht zum Handeln, die Revolution findet zwar statt, »draußen« in der Stadt. Aber was ist das schon für ein Vorgang?! Die eine Elite wird durch die andere ausgetauscht. Der sich nie zeigende »gnädige Herr«, der die beiden wohl aushält, aber auf jeden Fall nach Belieben straft und züchtigt, ist nun der »gnädige revolutionäre Herr«.

Das Theaterstück »Die wahre Geschichte des Ah Q« ist nicht (nur) ein bitterer Abgesang auf die Rebellen und die Aussteiger der 68er-Generation. Es handelt von der Konfrontation einer übermächtigen Gesellschaft, deren Institutionen noch im Modus ihrer Revolutionierung gegen die Individuen funktionieren, und deren Übermacht in die Anstrengung, sich ihr, der Gesellschaft zu entziehen, einwandert. Wang und Ah Q reden in Phrasen der (materialistischen) Philosophie und reagieren ironisch-distanziert auf sie. Sie wissen, dass sie Floskeln austauschen. Es kann auch genauso gut umgekehrt sein: Jeder Versuch, ihre Lage zu verstehen, gerät zur Phrasendrescherei. Dass sie sich der Gesellschaft entziehen, ist beides: eine Provokation der Herrschenden und eine für uns Zuschauer unerträgliche Passivität. Es ist nicht mehr zu unterscheiden. Sicher ist nur, dass der gnädige Herr durch alle Wirren hindurch oben bleiben wird.

»Die wahre Geschichte des Ah Q« – nach einer Novelle des großen chinesischen Schriftstellers Lu Xun – wurde vor 40 Jahren in Ost und West viel gespielt, viel gedeutet. Auch als Parabel auf die DDR und ihre zynisch-naiven, zur Passivität verurteilten Intellektuellen, oder als »Übersetzung« von Samuel Becketts Theater in die Sprache des historischen Materialismus. Es spart mehr aus, als es erzählt, aber die Vieldeutigkeit bezieht sich stets auf einen Kern: dass es den Individuen verwehrt ist – dass sie es sich selbst verwehren –, geschichtlich einzugreifen, zu handeln.

Produktivität der Sklavensprache

Die literarische Darstellung von Widersprüchen, gerade auch von Widersprüchen im Sozialismus selbst, war parteioffiziell akzeptiert, mitunter gewünscht, solange diese Widersprüche als nicht-antagonistische, nicht auf Ausbeutung und Entfremdung der lebendigen Arbeit fußende beschrieben wurden. Sie resultierten, so die marxistisch-leninistische Wunschvorstellung, aus der temporären Überforderung der Individuen, den Aufbau des Sozialismus mit seinen Härten und seinen Umwegen vollständig überblicken zu können. In der gediegenen Form der Literatur war es möglich, die Handelnden zu dem Punkt zu führen, an dem sie zur Einsicht in die Notwendigkeit fanden. Die Widersprüche im Sozialismus – etwa zwischen privatem Glück und gesellschaftlichem Fortschritt – sollten sich als produktive erweisen, den Sozialismus vorantreibende und sich allmählich in der Höherentwicklung der Gesellschaft auflösende. Dass es nicht wenige in der DDR erschienene Literatur gab, die diese Vorgaben unterlief – das ist bekannt und muss hier nicht noch mal betont werden. In »Die wahre Geschichte des Ah Q« ist der Widerspruch aber erstarrt, die Kontinuität der Macht ist ungebrochen, und wie sich Wang und Ah Q daran abarbeiten, ist Pseudo-Aktivität.

Wie aus diesem Kontinuum ausbrechen? Hein führt uns an die Grenze der Dialektik. Er hat sie in einem Essay aus dieser Zeit, dem 1981 veröffentlichten »Waldbruder Lenz«, mitleidlos beschrieben – am Beispiel der Sklavensprache. »Angewiesen auf Verständigung und die Sprache der Herrschenden, kommunizieren die Beherrschten mit den Worten eben dieser Sprache, denen sie jedoch eine andere, nur ihnen vertraute Bedeutung beilegen«: Das ist das subversive Moment der Sklavensprache, die die Dialektik in Gang bringt. Zwangsweise ausgehend von der Sprache der Herrschenden prägen die Unterdrückten und Ausgebeuteten in ihr und gegen sie ihre eigenen Begriffe und Vorstellungen. Sklavensprache, fasst Hein zusammen, »benennt den sozialen Stand des Sprechenden als den eines Ohnmächtigen, Unterdrückten, Versklavten. Er verweist auf einen Code, mit dessen Hilfe sich gleichartig Entrechtete verständigen«. Der Sprung, zu dem Hein dann ansetzt, ist aber keiner zur Entfaltung der Möglichkeiten der Befreiung. Im Gegenteil: Gerade weil die Sprache der Herrschenden diese Variabilität zulässt, sie anders, gegenläufig, subversiv zu sprechen, erweist sie sich als allmächtig. Wer in die Sklavensprache ausweichen muss, gerät mindestens in die Nähe der Selbsttäuschung, den Herrschenden dadurch, durch die Umcodierung ihrer Sprache, schon real etwas abgetrotzt zu haben. Sklavensprache, schreibt Hein, ist auch (!) »eine – unausgesprochene – Übereinkunft mit den Herrschenden, ein Abkommen der unterdrückten Sprachmächtigen mit den Mächtigen. Die tatsächlichen Zwänge werden durch ein Benennen, das in den Grenzen des Unausgesprochenen bleibt, verzaubert, beschönigt, scheinbar aufgehoben: Sklavensprache als nützliches Ventil für Herrschaft über Sklaven.«

Die Lösung für Hein, den historischen Materialisten in der Tradition Walter Benjamins – Benjamins Texte und Thesen gaben damals die Tiefengrundierung seines Schreibens ab –, bestand darin, keine Lösung zu liefern. »Chronist ohne Botschaft« hieß ganz passend ein ihm gewidmetes Arbeitsbuch von 1992. Die Lösung liegt auf der anderen Seite – bei den Lesern. Sie müssen sie selbst herausfinden. Die ideale Form als Voraussetzung dieser (vorläufig nur) gedanklichen Anstrengung ist die Chronik. Hein hat sie schon früh, mit den Anfang der 80er entstandenen »Berliner Erzählungen«, erprobt.

Die DDR war ein Narrenschiff

»Das Narrenschiff« kann man als Summe seiner Chroniken – die freilich Literatur bleiben und als Geschichtswerke höchst unzuverlässig wären – verstehen. Denn zahlreiche einzelne Aspekte der DDR-Geschichte hat er in seinen Romanen der vergangenen 25 Jahre durchgespielt: etwa die Prägung der Kommunisten und Intellektuellen durch die Terrorherrschaft Stalins (»Trutz«); das Aufwachsen mit einem Vater im Nacken, der ein Kriegsverbrecher war (»Glückskind mit Vater«); Schwulsein in der DDR (»Verwirrnis«) und die Bohème in der DDR (»Frau Paula Trousseau«); die Zerrissenheit der Berliner Realitäten bis zum Mauerbau (»Unterm Staub die Zeit«). Alle diese Themen, Geschichten, Sujets tauchen im »Narrenschiff« wieder auf und werden neu erzählt. Naheliegend also, den Roman als sein »Opus magnum« zu würdigen. Obwohl das Buch mit 750 Seiten der umfangreichste Roman Heins ist, mithin besonders viel zu erzählen vorgibt, scheint mit dieser simplen Feststellung eigentlich alles gesagt – zumal der Titel schon die wesentliche Aussage des Romans festhält: Die DDR war ein Narrenschiff, sie hatte keine Chance, einen wahrhaftigen Neuaufbruch zu beginnen, gar zu verwirklichen, und hat das mit zunehmend verrückter werdenden Maßnahmen, Parolen, Maßregelungen und Bekenntnissen zur angeblichen historischen Mission des Proletariats zu sublimieren versucht.

Gemessen an dem Titel und der ihm innewohnenden Spannung ist das Buch aber eine Enttäuschung. Aus dem dissonanten Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit gewinnt es weder Komik noch Tragik. Es scheint, als wüsste Hein mit der Anlage seiner fünf zentralen Protagonisten, mit ihren sich daraus fast zwangsläufig ergebenden Verwicklungen und Verstrickungen, nichts anzufangen. Ungläubig liest man weiter (in Erwartung des Knalls, der doch kommen müsste, aber nicht kommt): Da stellt uns Hein fünf Personen hin, die die Last der Welt in Ost-Berlin schultern – es sind, obwohl sie im Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat durchaus wichtige Stellen einnehmen, bewusst keine besonders herausragenden Personen; man ahnt, dass es tausende, zehntausende von ihnen gegeben hat, und weiß also, dass Hein seine fünf Protagonisten exemplarisch gezeichnet hat. Und dann aber macht er so wenig daraus. Wie kann das sein?

Christoph Hein, wie er am Staatstheater Meiningen 2022 über sein Stück »Guldenberg« spricht
Christoph Hein, wie er am Staatstheater Meiningen 2022 über sein Stück »Guldenberg« spricht

Schauen wir genauer hin. Johannes Goretzka war einst deutschnational und begeisterter Teilnehmer an Hitlers Russland-Feldzug, in der Kriegsgefangenschaft wechselt er, schon allein um zu überleben, zum Antifaschismus und wird, genauso wie er früher fanatisch von »Blut und Boden« schwafelte, überzeugter Parteigänger des sozialistischen Aufbaus. Seine deutlich jüngere Frau Yvonne hatte einen jüdischen Freund, der auf der Flucht aus Nazi-Deutschland mutmaßlich umgebracht wurde. Mit ihm hat sie eine kleine Tochter, Kathinka, die sie in die Ehe miteinbringt und die von ihrem Stiefvater nie wirklich akzeptiert werden wird. Yvonne weiß eigentlich (!), dass sie in einer Gesellschaft der Mörder und Verräter lebt – und sie wird denn auch auf die Nazi-Vergangenheit ihres Mannes gestoßen. Karsten Emser, ein nachdenklicher, reflektierter Ökonom – ein typischer Intellektueller –, hatte in den 30er Jahren im Moskauer Exil hohe Funktionen für die KPD und die Kommunistische Internationale ausgeübt und wurde darüber, mindestens indirekt, ein Mittäter bei den Säuberungen und Denunziationen. Seine ebenfalls deutlich jüngere Frau Rita steht für die junge Generation nach 1945, die den sozialistischen Staatsaufbau vorbehaltlos – unbelastet – annimmt, aber von Anfang auch bereit wäre, Maßregelungen auszusprechen. Schließlich Benaja Kuckuck, ein schwuler Literaturwissenschaftler und Westemigrant, hochgebildet und ironisch, der rein aus Antifaschismus Mitglied der Exil-KPD wurde, im Kern aber unpolitisch ist.

Hein entwirft die dramaturgische Anlage seiner Protagonisten sehr zügig, aber die Erwartungen, die sie weckt, erfüllen sich nicht. Kein Bruch, kein Untergang, keine Revolte. Den Eindruck, gescheitert zu sein, dürften sie alle teilen, und sie stoßen ja auch permanent auf Blockaden, landen in Sackgassen, müssen Demütigungen schlucken. Aber dieses Scheitern ist ein geradezu alltägliches, es ließe sich, mutatis mutandis, auch für Westbiografien beschreiben. Große Politik – wie der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei oder die Biermann-Affäre 1976 – spielt für sie entweder keine Rolle oder nur vermittelt als schwer zu begreifende Zustände von Angst (17. Juni 1953). Die Brüche finden draußen statt – wie die Entzauberung Stalins auf dem XX. Parteitag der KPdSU –, die Goretzkas und die Emsers aber wursteln sich durch, machen weiter, planen ihr Leben fast ausschließlich aus dem Nahbereich des persönlichen Erlebens, der kleinen, häufig schlecht gelaunten Freundeskreise heraus. Ihre Biografien verläppern sich – und so wird der Roman selbst immer faseriger, die Zeitsprünge vor allem im letzten Drittel vermitteln sich kaum noch, die Zeichnung der Personen weicht auf. Ihnen wird regelrecht die Luft herausgelassen.

Die Zähigkeit des Kleinbürgertums

Schließen wir literarisches Unvermögen aus – was ist es, was Hein uns hier vorführt? Es ist nicht die Geschichte der DDR, auch nicht die eines (!) Nachkriegsdeutschlands. Sondern die Geschichte von Opportunisten, von Beamten und Erfüllungsgehilfen, von biederen Managern und von Anfang an zur Nutzlosigkeit verdammten Geistesarbeitern.

In dieser Hinsicht ist der Roman durchaus spannend! Die Spannung besteht nicht zwischen der Nazi-Vergangenheit einer Person und ihrem Aufbau-Enthusiasmus der 50er. Sie besteht darin, dass auch ein Johannes Goretzka kein Opportunist sein wollte, aber durch Umstände, die er nicht hinterfragt, die er nicht begreift – und nicht begreifen will –, immer wieder zum Opportunismus gedrängt wird. Das kann auch mal ins Gegenteil umschlagen, wenn Goretzka sich sicher ist, Reformvorschläge einzubringen, die dem Wohl der Ökonomie dienen (und natürlich seine Karriere voranbringen sollen), diese Vorschläge haarscharf die aktuelle Parteilinie verfehlen und Goretzka als Revisionist gebrandmarkt wird. Die Bereitschaft zur Anpassung garantiert nicht ihr Gelingen. Das ist die Tragik Goretzkas, eine kleine, miese, aber immerhin eine Tragik.

Der Wunsch des deutschen Bürgers, nach 1933 wie nach 1945 auf der richtigen Seite zu stehen, übersetzt sich, übersetzt Hein in die rein persönliche – engherzige, autoritär vernagelte, angstbesessene – Vorstellungswelt seiner Protagonisten, in der diese gar nichts anderes wollen, als ihn von den jeweils neuen Herrschenden gewährt zu sehen. Eine Aufarbeitung kann so nicht stattfinden. Yvonne Goretzka erfährt schließlich von der Vergangenheit ihres Mannes – und wird dieses Wissen nicht gegen ihn verwenden. Sie wird daraus auch keine eigenen Schlüsse ziehen und also nicht die Scheidung einreichen. Hein zeigt, wenn auch indirekt, gespiegelt durch die Rolle Yvonnes, dass eine Aufarbeitung, ein Sprechen über die jeweils individuellen Verstrickungen in die Gewaltherrschaft der Nazis nur auf gesellschaftlicher Ebene – in einer freien (mutigen, unbefangenen, offenherzigen) Öffentlichkeit – möglich und sinnvoll gewesen wäre.

Im Hinblick auf Heins Werk zitiert die Literaturwissenschaft häufiger Walter Benjamin, dem sich Hein, mindestens bis zum Zusammenbruch der DDR, verpflichtet sah: »Der Cwhronist«, notierte Walter Benjamin 1940 in seinen Thesen zur Geschichte, »welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, dass nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.« Der Chronist Hein hätte demnach seinem Werk doch ein utopisches Moment eingeschrieben. Denn, so Benjamin, »erst der erlösten Menschheit (fällt) ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.« Ist »Das Narrenschiff« das Buch, das aus der Perspektive einer »erlösten Menschheit« gelesen werden wollte? Ein vermessener Anspruch. Als Chronik ist das Buch unzuverlässig; als realistischer Roman hält es nicht die hohen Ansprüche an die Form durch, wie Georg Lukács sie einst formuliert hat; als Darstellung der deutschen Misere hat es nicht die psychologische Spannkraft eines Stücks von Heiner Müller. Dennoch ist das Buch nicht gescheitert, das ist ja das Unheimliche! Zusammengehalten werden seine Geschichten von der Zähigkeit des deutschen Kleinbürgertums.

Ein letzter Rückblick auf Heins Werk: In seiner Erzählung »Der Tangospieler«, im Frühjahr 1989 erschienen – ein rabenschwarzes Buch –, ist die einzige männliche Gestalt, die moralisch und geistig ernst zu nehmen ist (die Frauen kommen wesentlich besser weg), ein Arbeiter, »Brigadier auf dem Bau. Rohrleger.« Und was liest der? Schopenhauer. Der Philosoph, dessen Pessimismus den Deutschen Idealismus beschloss. Nein, Hein zeigt uns wirklich keinen Ausweg.

Heins Texte handeln von herrschender Gewalt, die übermächtig wird, weil die Individuen deren Normen verinnerlicht haben.

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