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Mutter Emine

Die Samstagsmütterbewegung gilt als älteste Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei

  • Hülya Gürler
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwei Fotos gingen nach den Ausschreitungen der Istanbuler Polizei gegen die Samstagsmütter auf deren 700. Kundgebung vergangenen Wochenende um die Welt. Das erste ist ein Schwarz-Weiß-Bild und zeigt Emine Ocak in gebückter Haltung, wie sie 1997 von Polizistinnen abgeführt wird. Das zweite Foto ist vom vergangenen Samstag. Es ist ein Deja-vu des ersten. Wieder sind Polizistinnen zu sehen, diesmal mit Panzerwesten uniformiert, und wieder wird Emine Ocak vor dem Istanbuler Galatasaray-Gymnasium in ähnlicher Haltung an den Armen festgehalten und abgeführt. Auf dem zweiten Bild schaut Ocak direkt in die Kamera, Leid steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Die 82 Jahre alte Frau hat vor 23 Jahren die Samstagsmütterbewegung gemeinsam mit einer Handvoll anderer Familien ins Leben gerufen. Trotz zahlreicher Verhaftungen und Schikanen hält sie noch bis ins hohe Alter hartnäckig durch - für die Aufklärung der genauen Umstände des Mordes an ihrem Sohn, doch nicht nur um des eigenen Kindes Willen.

Emine Ocak ist eigentlich eine Ausnahme unter den Samstagsmüttern. Der tote und verstümmelte Körper ihres Sohnes Hasan wurde - anders als viele andere Söhne, Väter oder Ehemänner - 58 Tage nach seinem Verschwinden auf dem Gelände eines Istanbuler Armenfriedhofs gefunden und unter großer Anteilnahme begraben. Am 21. März 1995 war Hasan Ocak nach Unruhen im überwiegend von Aleviten bewohnten Istanbuler Gazi-Viertel festgenommen worden. Die Familie hatte danach nichts von ihm gehört. Ihre Bitte, dem Gouverneur von Istanbul Fragen über das Schicksal von Hasan stellen zu dürfen, wies die Behörde am 4. April 1995 zurück. Emine Ocak kettete sich daraufhin vor dem Gouverneursamt fest. So kam sie das erste Mal in Haft.

Die seit dem 27. Mai 1995 - wenige Tage nach dem Fund von Hasan Ocaks Leichnam - stattfindenden wöchentlichen Sitzungen der Samstagsmütter gelten als die längste Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei. Für Emine Ocak sind sie offensichtlich Sinn und Zweck ihres Lebens. Laut einem BBC-Bericht von Oktober 2013 sollen andere ihr gesagt haben, sie habe wenigstens das Grab ihres Sohnes gesehen. Emine Ocak gab sich damit nicht zufrieden. »Ich habe zwar Hasan gesehen, aber seine Freunde sind weg. Sie haben meine jungen Leute ins Gefängnis und unter die Erde gebracht. Ich lebe für diesen Grund. Sie sollen die jungen Leute aus der Erde herauslassen«, soll Ocak, deren Muttersprache Zazaisch ist, gesagt haben.

»Mutter Emine ist eine sehr liebenswürdige und warmherzige Frau«, weiß der Menschenrechtsaktivist Kamber Erkocak aus Berlin zu berichten. Gemeinsam mit Emine Ocak nahm er an mehreren Sitzungen der Samstagsmütter teil und bekam selbst Polizeigewalt zu spüren. »Sie ist nach 23 Jahren heute in der Situation, für alle Verlorenen und Protestierenden vom Galatasaray-Platz Pate zu stehen. In ihrem Blick sieht man ihr jahrelanges Leiden.« Kein Wunder: »Sie haben mich an den Haaren und Armen geschleift. Im Gefängnis blieb ich eine Woche, zehn Tage, sogar einen Monat«, sagte Emine Ocak der BBC. Den einen Monat hatte ihr ein Richter wegen Störung der Gerichtsordnung aufgebrummt, weil sie während einer Verhandlung gegen einen Menschenrechtler im April 1995 ausgerufen haben soll: »Seit zehn Tagen suche ich meinen Sohn. Findet meinen Sohn!«

Tochter Maside Ocak ist unter den Samstagsmüttern großgeworden. Sie beobachtete, wie sich die Mütter in all den Jahren emanzipierten. »Viele haben in Diskussionen mit ihren Familien die eigenen althergebrachten Werte und Traditionen hinterfragt«, erzählte sie der BBC. Sie sieht den Erfolg der Samstagsmütter darin, dass zwar die Schicksale von in den 80er und 90er Jahren Verschwundenen nicht aufgeklärt werden konnten, jedoch weiteres Verschwinden von Menschen zurückgegangen sei.

Die Täter wurden allerdings nicht bestraft. Aktivisten werfen den Behörden vor, die Verbrechen nicht ernsthaft untersucht zu haben. Stattdessen durchbrachen die Behörden immer wieder den stillen Protest und verhafteten Angehörige, die sich inzwischen aus der dritten Generation zusammensetzen. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter aus diesem Grund ihre Kundgebungen ganz aussetzen. Anfang dieser Woche verboten die Istanbuler Behörden ihre Zusammenkunft auf Betreiben von Innenminister Süleyman Soylu erneut. Die Begründung: Verbindungen zu einer Terrororganisation, die Mutterschaft für ihre Zwecke ausnutze.

Einschüchtern lassen sich die Samstagmütter davon offenbar nicht: Am Freitag gaben die Frauen auf einer Pressekonferenz bekannt, Staatspräsident Erdoğan treffen zu wollen. Dieser hatte sie 2011 als Ministerpräsident schon einmal empfangen - herausgekommen war dabei außer Geten nicht viel. Und: Auch an diesem Samstag werden sie wieder demonstrieren, trotz des Verbots. Emine Ocak wird wohl dabei sein. Zum 701. Mal.

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