Enrico Spoon (Rio de Janeiro 1972)

Unbekannte Bekannte

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 2 Min.

Weil er stets um die Mittagszeit mit einem Holzlöffel zwischen den Tischen umherstreunte, gaben wir dem zerlumpten Kerlchen den Namen Enrico Spoon. »Enrico over here«, riefen wir, »come along with your spoon!« Flink auf nackten Sohlen lief er mit seinem Löffel, wohin immer man ihn haben wollte.

Das waren kurze Wege - das Restaurant war klein: Fünf Tische, ein Kellner und in der Garküche der Koch. Das Essen war preiswert, und gern legten wir mal eine Kartoffel, mal eine Mohrrübe, mal ein Stück Fleisch in Enricos Löffel. Er wurde satt - was man ihm nicht ansah: groß die Augen im mageren Gesicht, hohl die Wangen und mager sein Körper. »Enrico, come along!«

An diesem Tag jedoch, meinem letzten in Rio, dem Abschied von der Praca Mauá, hatte Enrico Pech - kaum war er durch die Tür, packte ihn der Kellner bei den Ohren und beförderte ihn wieder nach draußen. Keiner wusste warum, und als wir uns einmischten: »Let him be, for Christ sake!«, verweigerte sich der Kellner und ließ Enrico, wo er war.

Im Spalt unter der Flügeltür sahen wir seine nackten Füße, und wenn die Tür aufschwang, sahen wir ihn ganz. Das blieb so während der gesamten Mittagszeit: Die Füße im Spalt, Enrico ganz, dann wieder nur die Füße.

Sie verschwanden auch nicht, als einer dieser heftig prasselnden Rio-Regengüsse einsetzte. Wir sahen Enricos Füße in der Pfütze, ihn selbst sahen wir nicht, weil keine weiteren Gäste eintraten. Doch dann, ganz plötzlich, entdeckten wir im Spalt den Holzlöffel. Der klapperte, weil Enrico mit ihm klapperte. Wir riefen dem Kellner zu: »Have a heart, man. For Christ sake, have a heart!« - und einer von uns rief das auch in Portugiesisch.

Der Kellner gab sich einen Ruck, ging zur Anrichte, nahm von einem der Teller eine Kartoffel, die trug er zur Flügeltür, bückte sich und legte die Kartoffel in den Holzlöffel. Im Nu verschwanden beide: Löffel und Kartoffel.

Doch bald schon hörten wir es wieder klappern, der Löffel klapperte, während draußen der Regen verebbte. Sonnenlicht glitzerte in dem Stück Pfütze, das wir sehen konnten. Enricos kleine Füße und sein Löffel verschwanden erst, als der Kellner eine Kartoffel nachlegte.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal