Merkel-Dämmerung

Robert D. Meyer stellt das von Journalisten erneut ausgerufene Ende der Kanzlerin in Frage.

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit Sicherheit hätte niemand zuletzt mit Angela Merkel tauschen wollen. Seit Monaten wird die Kanzlerin von Horst Seehofer unter Druck gesetzt, sei es in der Asylpolitik oder der Causa Hans-Georg Maaßen. Von der davon ausgehenden Nervosität hat sich neben vielen Journalisten auch die Union anstecken lassen, wie zuletzt die Niederlage von Merkels rechter Hand Volker Kauder bei der Wahl zum Fraktionschef zeigte. Es stimmt: Die Kanzlerin hat schon ruhigere Jahre erlebt. Doch steht sie tatsächlich kurz vor dem Ende ihrer politischen Karriere?

»Angela Merkel bekommt ihre Kanzlerschaft nicht in den Griff«, heißt es auf spiegel.de. Das Zitat stammt allerdings nicht aus den letzten Tagen, sondern vom 27. Juni 2011. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier hat es für eine Analyse auf uebermedien.de recherchiert, um zu belegen, dass die deutschen Medien den Anfang vom Ende der Ära Merkel »ziemlich exakt auf den Anfang der Ära Merkel datieren«. Denn die Hamburger Polit-Illustrierte wusste schon im Mai 2001: »Es ist einsam geworden um die Vorsitzende aus dem Osten.« Damals war Merkel noch nicht einmal Regierungschefin. Niggemeier kommentiert die nun wieder einmal ausgerufene »Merkel-Dämmerung« (Ferdinand Otto auf zeit.de) mit ironischem Unterton: »Gut möglich, dass es diesmal stimmt. Irgendwann muss es ja auch mal stimmen.«

Auch Stefan Winterbauer ist auf meedia.de überzeugt: »Die Medien machen nur das, was sie immer machen und wohl immer schon gemacht haben: Sie schreiben, senden und kommentieren das nahende Ende herbei.« Und dass das bei so ziemlich jedem Regierungschef vor Merkel auch schon der Fall war, illustriert Winterbauer mit einem »Spiegel«-Cover aus dem Jahr 1979, als sich die Hamburger Kollegen sehr sicher waren: »Kohl kaputt«. Da war der Pfälzer noch nicht mal Kanzler, sondern Oppositionsführer im Bundestag. Richtig lag das Magazin mit dieser Feststellung erst einige Titelgeschichten und 19 Jahre später.

»Das Grundproblem bei alldem ist«, so Winterbauer, »dass Zweifel und Zögerlichkeit bei Analysen und Einordnungen in den Medien nicht gefragt sind. Ein abwägendes ›einerseits, andererseits‹, lockt kaum einen hinter dem Ofen hervor.« Er rät seinen Kollegen, es mit ein bisschen mehr Zögerlichkeit und Vorsicht bei der Berichterstattung zu probieren. Kurzfristig möge solches Dauer-Hyperventilieren Klicks im Internet und Aufmerksamkeit bringen, im Gegenzug gehe aber das Vertrauen der Leserschaft verloren.

Viele Medien vermittelten den Eindruck, »immer ganz genau Bescheid zu wissen«, und suggerierten, der Reporter hocke direkt im Hirn des jeweiligen Politikers oder sitze zumindest mit am Tisch. Auch hier verweist Winterbauer beispielhaft auf den »Spiegel«, der die Stilform der subjektiven Reportage kultivierte, indem in vielen Artikeln »beschrieben wird, was jemand wann tut, was er oder sie denkt, wie sich die Kanzlerin fühlt und was das Glas Orangensaft in irgendeinem Tagungshotel kostet«. Das sei Show-Journalismus, der die eigentliche Frage, ob eine Geschichte tatsächlich stimmt, in den Hintergrund treten lasse.

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