Erziehung ist nicht per se nachhaltig

Tagung »Aufwachsen in Brandenburg«: Pädagogik-Experte legte aktuelle Trends dar und analysierte Probleme

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Reformpädagogik ist auch in die Jahre gekommen und auf einiges hat man heute eine andere Sicht. Bei seinem Impulsvortrag zum Thema »Aufwachsen in Brandenburg« am Freitag im Potsdamer Gebäude der brandenburgischen Landesinvestitionsbank legte der bekannte Pädagogik-Professor Dietmar Sturzbecher unter anderem dar, dass die neuen Erziehungsmethoden auch ihren Preis haben und keineswegs immer nur ein Gewinn seien. »Wann wurde an bayerischen Schulen die Prügelstrafe abgeschafft?«, fragte Sturzbecher am Freitag bei der Tagung »Aufwachsen in Brandenburg« seine Zuhörer. Die Antwort: Erst 1980. (An den ostdeutschen Schulen wurde die Prügelstrafe übrigens bereits 1947 per Dekret der sowjetischen Besatzungsmacht verboten.) Aber noch 1986 habe das Bundesverfassungsgericht den westdeutschen Eltern die »maßvolle körperliche Züchtigung« zugestanden. Seitdem hat sich glücklicherweise viel getan.

Wenn in der Erziehung der Übergang vom Befehlen zum Verhandeln nach wie vor im Gange ist, dann sind ein höheres Maß an Geduld, Selbstbeherrschung und das Aushalten von Kompromissen gefragt, dann treten Unsicherheit und Stress auf, von einem höheren Zeitaufwand ganz zu schweigen. Natürlich sei nicht zu übersehen, dass dadurch jede Menge Probleme entstehen, sagte Sturzbecher. »Erziehung wird schwieriger.« Der Professor, der kürzlich eine neue Jugendstudie für Brandenburg vorgelegt hatte, warb dafür, dass der Personalschlüssel in den Erziehungseinrichtungen des Bundeslandes diesen höheren Aufwand berücksichtigen müsse, denn das heutige »Aufwachsen in Freiheit« führe dazu, dass Kinder sich zusammentun und ihre Meinung vertreten.

Von einer in früheren Jahren angestrebten »Einheitsfront« zwischen Eltern und Erziehungs- beziehungsweise Lehrpersonal ist heute offenbar immer weniger auszugehen. Laut Sturzbecher hat sich die Zahl der Elternbeschwerden über Erzieherinnen in Brandenburg zwischen 2012 und 2015 vervielfacht. Zu den Vorwürfen gehöre »Zerren, Schlagen, Einsperren«. Von einer »Bestialisierung« des Erziehungspersonals sei aber keineswegs auszugehen, eher von stark auseinanderfallenden Vorstellungen von Kindeserziehung, sagte der Professor. Die Abwesenheit von körperlicher Gewalt in der Erziehung ist Sturzbecher zufolge nicht etwas, das sich unbedingt vererbt. Gewaltfrei aufgewachsene Jugendliche seien keineswegs immer bereit, auf den »kleinen Klaps« bei den eigenen Kindern zu verzichten.

Auch die Annahme, Fremdenfeindlichkeit erledige sich einfach durch die Begegnung mit Migranten, verwies der Professor ins Reich der Legenden. Die Annäherung stelle sich nicht von selbst ein, sie müsse »begleitet« werden und habe zur Voraussetzung unter anderem die Gleichberechtigung aller Seiten.

Im Jahr 2012 waren 1,4 Prozent der Schüler in Brandenburg Ausländer, im Jahr 2018 liegt der Anteil bei fünf Prozent. Im Bundesdurchschnitt haben heute 35,5 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Sturzbechers Befund setzt die oft selbstgefällige deutsche Pädagogik in ein etwas anderes Licht: »Migrantenkinder an deutschen Schulen haben im internationalen Vergleich schlechte Karten.« Ihm zufolge werden mutmaßliche Täter dreimal häufiger angezeigt, wenn sie zugewandert sind.

Seit 2012 wachsen unter brandenburgischen Jugendlichen erstmals seit vielen Jahren ausländerfeindliche und rechtextreme Einstellungen wieder an. Doppelt so viele 12- bis 14-Jährige haben jetzt derartige Ansichten. »Ein Trend wurde gebrochen, wir haben ein Stück Widerstandskraft eingebüßt«, mahnte Sturzbecher. Er sieht hier Handlungsbedarf. Jedermann lebe mit Vorurteilen, das sei wahrscheinlich unausrottbar. Von Vorurteilen lasse der Mensch sich leiten, wenn er wenig wisse, nicht lange nachdenken wolle oder einen Sündenbock suche. Die schlimmsten Erziehungsmethoden seien diejenigen, die ständig wechseln. Auch wirke sich negativ aus, wenn Eltern unterschiedliche Prinzipien haben.

Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) bekannte bei dem Termin, er habe zu DDR-Zeiten an einer Jugendstudie teilgenommen, sei aber von der Datensicherheit nicht überzeugt gewesen. So könne er sich vorstellen, dass auch andere auf die Fragen »Wie stehen Sie zur deutsch-sowjetischen Freundschaft?« oder »Wie bewerten Sie die führende Rolle der kommunistischen Partei« nicht in jedem Fall ihre Grundüberzeugung offengelegt haben.

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