Das kämpfende Polen erhebt sich

Der Warschauer Aufstand ist ein historischer Kristallisationspunkt im Nachbarland

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Häuserfassade im Warschauer Zentrum erinnert an den Warschauer Aufstand.
Eine Häuserfassade im Warschauer Zentrum erinnert an den Warschauer Aufstand.

»Alle kämpfen mit. Großartige Stimmung auf den Straßen«. Am 6. August 1944 berichtete die »Rzespospolita Polska«, die Zeitung der polnischen Exilregierung, vom Enthusiasmus der Aufständischen in Warschau. In den Fenstern hingen weiß-rote Flaggen, über die Lautsprecher liefen statt deutscher Bekanntmachungen patriotische Lieder. Auf dem Dach des »Prudential«-Hochhauses, des höchsten Gebäudes der Stadt, war am 1. August die polnische Flagge gehisst worden. Die Warschauer Frauen und Männer errichteten Barrikaden, Hauskomitees organisierten das Leben in Blöcken und Vierteln. Die zivilen Behörden des polnischen Untergrundstaates wiesen die Bevölkerung an, die Toten beider Seiten zu begraben. Lynchjustiz war nachdrücklich verboten.

»Jeder Bewohner ist zu töten, es ist verboten, Gefangene zu machen. Warschau soll dem Erdboden gleichgemacht werden.« Mit diesem Befehl setzten Hitler und Himmler bereits am 1. August Wehrmacht, Polizei und SS-Truppen in Gang. Und diese setzten diese Anweisung zum Massenmord um. Im Stadtteil Wola ermordeten Deutsche allein vom 5. bis zum 7. August bis zu 50 000 Menschen. Dabei töteten sie nicht nur gefangen genommene Aufständische, sondern auch Kinder, Frauen, kranke und ältere Menschen. SS-Einheiten vergewaltigten und mordeten in Krankenhäusern, schreckten nicht vor Nonnen und Priestern zurück, schlugen in einem Waisenhaus Kindern mit Gewehrkolben den Schädel ein.

Ein Symbol polnischer Identität

Am heutigen Donnerstag, dem 75. Jahrestag des Aufstandsbeginns, legt der deutsche Außenminister Heiko Maas gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen Jacek Czaputowicz einen Kranz am Mahnmal für Opfer des Massakers von Wola nieder. Ein wichtiges Symbol. Denn Wola hat für deutsche Ohren trotz der Monstrosität deutscher Verbrechen noch nicht den Klang von Lidice, Oradur-sur-Glane oder Babyn Jar, was auch mit der verspäteten Annahme der Ereignisse durch die deutsche Geschichtsschreibung ab den 1970er-Jahren zu tun hat (»nd« S. 14 vom 30. Juli 2019). Bis zu seinem Tod 1979 konnte Heinrich »Heinz« Reinefarth relativ unbehelligt auf Sylt leben, wo er nach dem Krieg sogar Bürgermeister und Landtagsabgeordneter war. Als SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS und Polizei befehligte er das Massaker. »Was soll ich mit den Zivilisten machen? Habe weniger Munition als Gefangene«, beschwerte er sich in einem Befehl während des Aufstandes. Erst am 10. Juli 2014, um den 70. Jahrestag des Aufstands, sprach der Landtag Schleswig-Holstein angesichts der Gräueltaten Reinefarths endlich »sein tiefes Mitgefühl« aus und bedauerte, »dass es nach 1945 in Schleswig-Holstein möglich werden konnte, dass ein Kriegsverbrecher Landtagsabgeordneter wird«.

Die heutige Identität Warschaus und auch Polens fußt maßgeblich auf den 63 Aufstandstagen 1944. In der polnischen Hauptstadt gilt das sogar physisch. Nachdem die Deutschen bereits 1943 nach der Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands den ehemaligen Ghettobezirk westlich der Weichsel vor allem um Mirów herum dem Erdboden gleichmachten, zerstörten sie nach der Kapitulation der Aufständischen im Oktober 1944 systematisch und Haus für Haus den Rest der polnischen Hauptstadt. Während sowjetische Truppen nicht weit weg vom anderen Ufer der Weichsel lagen, hörten die Aufständischen schon Anfang August das Artilleriefeuer der Roten Armee.

Offene Debatten erst seit 1989

Die Meinung, dass die Rote Armee die Aufständischen absichtlich habe ausbluten lassen, ist heute verbreitet in Polen. Fakt ist, die Aufständischen konnten ihr Ziel, Warschau als von Polen selbst befreite Stadt an die sowjetischen Sieger zu übergeben, nicht erreichen. Da offene Debatten darüber erst ab 1989 möglich waren, schlagen die Wellen bis heute hoch. Und so kann die Frage, was mit dem Kulturpalast, einem Geschenk der Sowjetunion, das die Hauptstadt Volkspolens dominierte, geschehen soll, bis heute hitzige Antworten hervorbringen. Es ist auffallend, wie schnell sich die Skyline Warschaus nach 1989 durch Wolkenkratzer änderte, so als wolle man den Kulturpalast als nur noch eines von vielen Gebäuden zurücksetzen.

»Wir errichten einen polnischen Staat gemäß unseren Bedürfnissen, nach unserem Willen und dank unserer Soldaten«, sendete der polnische Rundfunk am 20. August 1944, während des Aufstands. Dieser konnte überhaupt nur so lange dauern, weil er zum einen von der gesamten polnischen Gesellschaft getragen wurde und entscheidend auf dem polnischen Untergrundstaat fußte. Auch dies wurde bis 1989 ignoriert und negiert und so ist auch die Bitterkeit in den Worten von Jan Ołdakowski, dem Direktor des Museums des Warschauer Aufstands in Wola, zu verstehen, der 2014 schrieb: »Die Verfälschung der Wahrheit über den Warschauer Aufstand während der Jahre der kommunistischen Herrschaft war eine zwangsläufige Konsequenz aus dem Kampf des damaligen Regimes gegen die Idee der Freiheit und Unabhängigkeit […] Die Wahrheit über den Warschauer Aufstand, der sich militärisch gegen die Deutschen, politisch aber gegen die Sowjets richtete, hätte dem vom Kreml in Polen eingesetzten kommunistischen Regime jede Legitimität entzogen.«

Wem gehört die Geschichte?

Der Warschauer Aufstand ist ein Herzstück der aktuellen polnischen Geschichtspolitik. Der 4-minütige Animationsfilm »Niezwyciężeni« (Die Unbesiegbaren), der im September 2017 vom Nationalen Geschichtsinstitut IPN veröffentlicht wurde, ist ein Beispiel dafür: Am Anfang eine Landkarte, NS-Deutschland und die Sowjetunion attackieren Polen, ein polnischer Soldat stellt sich dem entgegen. Es folgen der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943, der Warschauer Aufstand 1944, das deutsche Vernichtungslager Auschwitz auf polnischem Boden, der Kampf um Monte Cassino in Italien, der Aufstand der Solidarnosc ab 1980. Durchgehendes Motiv: erfolgreicher Widerstand. Einer der Produzenten drückte es so aus: »Jede Reaktion des Feindes löste eine weitere Reaktion aus: Der Staat wurde vernichtet - wir bauten ihn im Untergrund wieder auf; ihr habt unsere Offiziere ermordet [Katyn, stf] - wir sind im Westen wiedergekehrt; ihr habt chiffriert [das Enigma-System der Wehrmacht, stf]- wir haben den Code geknackt.« Genau zu dieser Zeit wurde seitens der PiS-Spitze auch die Debatte um deutsche Reparationen angestoßen. Diese wurde zuletzt eher von Politikern der zweiten Reihe am Leben zu erhalten, es ist allerdings zu erwarten, dass sie angesichts der symbolträchtigen Jahrestage - es folgt am 1. September der 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen 1939 - wieder an Fahrt und Schärfe gewinnt.

Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand ist Teil der polnischen Alltagskultur geworden, man findet das Symbol des Widerstands gegen die deutsche Besatzung, den Anker (kotwica), dessen Buchstaben P und W für »Polska Walcząca«, Kämpfendes Polen, steht auf Aufklebern und T-Shirts. Problematisch ist, dass das historische Narrativ des »Widerstands« auch ein Leitmotiv der aktuellen Politik ist, wenn zum Beispiel Brüssel und die EU als »neues Moskau« bezeichnet und betrachtet werden. Denn so nötig wie heroisch der totale Widerstand gegen totalitäre Regime ist, so schwierig wird dieses Narrativ als Maxime in demokratischen Gesellschaften, da es nur Sieg oder Niederlage, aber keinen Kompromiss kennt.

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