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  • Minderheiten im Europäischen Parlament

Ex-Flüchtling, Parlamentarier, unüblich

Verschiedene Minderheiten sind im Europäischen Parlament stark unterrepräsentiert

  • Marion Bergermann
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit dieser Woche haben die neuen und wiedergewählten Abgeordneten im EU-Parlament ihre Arbeit nach der Sommerpause begonnen. Dabei fällt auf: Die Abgeordneten sind längst nicht so unterschiedlich, wie es die über 513 Millionen Menschen sind, die sie vertreten. Minderheiten werden im neuen EU-Parlament kaum repräsentiert. Und auch der Frauenanteil ist noch nicht paritätisch. Dieser liegt nun bei 40,4 Prozent. Das ist immerhin die höchste Quote seit der Gründung des Parlaments, das seitdem zwei Präsidentinnen und 29 Präsidenten hatte.

Wie sehr man auch in der neuen Legislaturperiode im EU-Parlament als Mensch aus einer Einwandererfamilie auffällt, bekam der Grünen-Abgeordnete Magid Magid zu spüren. Magid, 30 Jahre alt, ist Muslim und floh mit seiner Familie aus Somalia nach England. Als er zum ersten Mal im Straßburger Parlament aus dem Plenarsaal lief, so erzählt er dem »nd«, fragte ein ihm Unbekannter, ob er sich verlaufen habe. »Sehe ich so aus als ob ich mich verlaufen hätte?«, entgegnete der Grünen-Politiker. Der Mann bat ihn, das Parlament zu verlassen, woraufhin Magid seinen Abgeordnetenausweis zeigte.

»Im Europäischen Parlament sind die Leute nicht daran gewöhnt, schwarze Personen in einflussreichen Positionen zu sehen. Sie arbeiten als Reinigungskräfte, Fahrer, im Catering oder sind Besucher. Aber man wird nie als genauso zugehörig angesehen wie die weiße Mittelklasse-Mehrheit, die es im Europäischen Parlament gibt«, sagt Magid.

Die Brüsseler Nichtregierungsorganisation ENAR (European Network against Racism) analysierte die Europawahl-Ergebnisse und fand heraus, dass Nachfahren eingewanderter Familien oder Migrant*innen im Verhältnis zur Bevölkerung im EU-Parlament stark unterrepräsentiert sind. Die NGO geht davon aus, dass diese Minderheiten mindestens zehn Prozent der Bevölkerung in den Mitgliedsländern ausmachen. Im EU-Parlament sind sie jedoch mit fünf Prozent, etwa 36 Abgeordneten, vertreten. Darunter fallen Personen von nationalen Minderheiten wie Ungar*innen in Rumänien oder afrikanischstämmige Abgeordnete.

Deutschland liegt dabei auf dem dritten Platz mit fünf Abgeordneten, nach Großbritannien mit sieben Abgeordneten und Frankreich mit sechs. Insgesamt kommen die Angehörigen einer herkunftsbezogenen Minderheit aus 13 von den bisher noch 28 Mitgliedsländern.

»Obwohl wir einen Anstieg im Vergleich zum letzten Mandat sehen, werden viele der Errungenschaften mit dem Brexit zurückgeschlagen. Die Repräsentation von ethnischen Minderheiten und Personen of Colour ist unerlässlich für die demokratische Legitimität des Europäischen Parlaments«, teilte Georgina Siklossy, Sprecherin von ENAR, dem »nd« mit. Denn nach dem potenziellen Brexit wären es vier Prozent, schätzt die Organisation.

Samira Rafaela, Jahrgang 1989 und Afro-Niederländerin, die für die liberalen D66 im Parlament sitzt, spricht sich auch dafür aus, mehr Diversität ins EU-Parlament zu bringen: »Demokratie ist mehr als nur Mehrheitsprinzip, es geht darum, alle mit einzubeziehen«, sagte sie dem »nd«.

Listenplätze freiräumen

Das liegt auch daran, wer es überhaupt in die Politik schafft. Und wen Parteien auf die Spitzenplätze ihrer Wahlisten setzen. Die Grünen und Liberalen haben mit acht Personen jeweils die meisten Abgeordneten, die einer Minderheit bezüglich der geografischen Herkunft angehören. Magid Magid schlägt vor, dass Parteien Listen mit Kandidat*innen aus verschiedenen Communities erstellen und diesen obere Plätze auf den Wahllisten freimachen.

Neben der geringen Anzahl von Kandidat*innen aus Einwandererfamilien insgesamt und auf den Top-Listenplätzen hat deren Unterrepräsdentierung laut ENAR noch andere Gründe. Direkte Diskriminierung beim Wählen sowie struktureller Rassismus, also Diskriminierung, die in Institutionen verankert ist.

Auch wenn die Herkunft von Abgeordneten nicht mit ihren politischen Überzeugungen gleichzusetzen ist. Konservative Migrant*innen setzen sich nicht unbedingt für Menschenrechte ein, und auch der bisherige Standard der Parlamentarier – Mittelklasse aufwärts, weiß, männlich – kann sich für Minderheiten engagieren. Während laut der Analyse von ENAR 17 Europaabgeordnete von Minderheiten bei linken Parteien sind, sind acht bei liberalen Parteien und elf bei konservativen oder rechten Parteien. Mehr Repräsentation müsse daher mit einem klaren Bekenntnis zu Gleichheit und antirassistischer Politik einhergehen, sagt Georgina Siklossy.

LGBTI*-Rechte wohl kaum im Fokus

Aber auch bezüglich der Rechte von Homo- Bi- Trans- und Intersexuellen (LGBTI) ist das Parlament nicht gut aufgestellt. ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association), eine Brüsseler Dachorganisation für LGBTI-Rechte, hatte vor den Wahlen Kandidat*innen gebeten, zu unterschreiben, dass sie sich, wenn im Amt, um Gleichheit für LGBTI in der EU bemühen werden. Laut ILGA unterschrieben 215 jetzige Abgeordnete von acht Fraktionen. Das sind weniger als ein Drittel aller Parlamentarier*innen.

Gleichzeitig gibt es Kategorien, über die es wohl kaum Zahlen geben wird. Wie etwa über die Anzahl von Transpersonen, Schwulen, Lesben, Menschen mit unsichtbaren Behinderungen oder der genauen sozialen Herkunft. Weil es mit Schwierigkeiten einhergehen könnte, sich als zugehörig zu erklären. Umso wichtiger ist es, dass ihre Rechte auch von anderen unterstützt werden.

Dass auch in den anderen Institutionen weiße Personen das Geschehen dominieren, ist nichts Neues. Für die EU-Kommission, die gerade mit Ursula von der Leyen zum ersten Mal eine Frau an ihrer Spitze haben wird, gibt es laut ENAR keine Daten zu sogenannter ethnischer Diversität ihrer Mitarbeiter*innen.

Auf Twitter entstand jedoch vor etwa zwei Jahren der Hashtag #BrusselsSoWhite, unter dem User Beispiele darüber teilen, wie in der Brüsseler Politik sowie in dortigen Firmen weiße Menschen überrepräsentiert sind und es rassistische Vorfälle gibt. Genauso werden auch immer wieder die vielen in Brüssel stattfindenden Podiumsdiskussionsrunden kritisiert, bei denen selten etwa Frauen of Colour sitzen.

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