Blindes Vertrauen in die türkische Justiz

Auch die österreichische Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Journalisten Max Zirngast

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 3 Min.

Der österreichische Journalist Max Zirngast wurde im September vor dem Strafgericht in Ankara vom Terrorismusvorwurf freigesprochen. Die türkische Justiz hatte wieder einmal einen unschuldigen Menschen ohne Beweise angeklagt und inhaftiert. Für die Organisatoren seiner Solidaritätskampagne und Zirngasts Familie stand das von Anfang fest. Doch wie sich jetzt herausstellte, nahm eine andere Behörde ebenfalls Ermittlungen gegen Zirngast wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung auf: das österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz.

Davon erfuhr der Journalist, der auch für »neues deutschland« schreibt, im November, als ihn die Staatsanwaltschaft Graz über die Einstellung des Verfahrens informierte. »Dass in der Türkei Menschen mit absurden und fadenscheinigen Vorwürfen angeklagt werden, ist nichts Neues. Aber dass eine österreichische Staatsanwaltschaft so eine Anklage ernst nimmt und selbst ein Ermittlungsverfahren anstrengt, ist einigermaßen erstaunlich«, so Zirngast.

Nun erhielt der Journalist Einsicht in die Akten des Ermittlungsverfahrens, die auch »nd« vorliegen. Bereits am 19. September 2018, eine Woche nachdem Zirngast in seiner Wohnung in Ankara inhaftiert wurde, berichtete das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) der Staatsanwaltschaft Wien ausführlich über die Hintergründe der Inhaftierung. Hier wird deutlich, dass völlige Unkenntnis über linke Organisationen in der Region herrschte. Die TKP-Kıvılcım (TKP/K), deren Mitglied Zirngast sein soll, existiere, so Zirngasts Anwalt, seit den 90er Jahren nicht mehr. Mehrere Präzedenzfälle vor türkischen Gerichten hätten das bewiesen.

Dem Verfassungsschutz lagen keine Erkenntnisse zur TKP/K vor. Mitarbeiter fügten ihre Spekulationen über die politische Einordnung der Gruppe hinzu. Demnach sei sie eine Abspaltung der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei der Türkei TKP/ML. Ziel der in den 70er Jahren gegründeten maoistischen Gruppe sei ein bewaffneter revolutionärer Umsturz in der Türkei, wofür die TKP/ML eine militärisch ausgerichtete Teilorganisation namens »Türkische Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee« (TIKKO) unterhalte. Der Verfassungsschutz stellte fest, dass die TKP/ML in keinem europäischen Staat mit einem Verbot belegt ist und sich auf keiner internationalen Terrorliste befindet.

Die Ermittlungen in Österreich basierten somit auf haltlosen Spekulationen. Dennoch beauftragte die Oberstaatsanwaltschaft Graz am 26. November 2018 die Staatsanwaltschaft mit der Einleitung eines Verfahrens wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Der entscheidende Anlass hierfür waren offenbar nicht die Recherchen der Botschaft oder des Verfassungsschutzes, sondern die Entscheidung des 4. Amtsgerichts für Strafsachen in Ankara, wonach Zirngast wegen »starken Verdachts« der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation am 20. September 2018 in Untersuchungshaft kam.

Die Oberstaatsanwaltschaft Graz schrieb, dass selbst »der Umstand nichts zu ändern vermag, dass sich die Vereinigung, an der sich Max Zirngast beteiligt haben soll, weder auf einer österreichischen noch einer internationalen Terrorliste findet«.

Im Folgenden wand sich die Grazer Staatsanwaltschaft dreimal an das Amtsgericht in Ankara und bat mit einem Rechtshilfeersuchen um die Übermittlung der Akten. Während Zirngast noch im Gefängnis saß, informierte der österreichische Staatsanwalt das türkische Gericht darüber, dass auch in Österreich ein Verfahren laufe, basierend auf dem »Vernehmungsprotokoll der türkischen Strafverfolgungsbehörden und auch der bisherigen Ermittlungen der österreichischen Kriminalpolizei«.

Auch die Spekulationen über vermeintliche Verbindungen der TKP-K mit einer Befreiungsarmee finden sich in dem Anschreiben. Bisher hatte die türkische Justiz nicht einmal selbst solch eine abstruse Verbindung in Betracht gezogen. Einen Monat nach Zirngasts Freispruch am 11. September 2019 stellte auch der Oberstaatsanwalt in Graz fest, dass keine Beweise für die Existenz der TKP/K vorliegen, und stellte das Verfahren ein.

Die Vorgehensweise zeige, so Zirngast, dass auch eine europäische Justiz ohne konkrete Beweise Anschuldigungen vorbringen und ein Verfahren eröffnen könne. »Man ist scheinbar bereit, mit den offensichtlich nicht demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen in der Türkei zu kooperieren und diese Institutionen auch ernst zu nehmen. Das birgt ein großes Gefahrenpotenzial vor allem für Menschen, die vor der politischen Justiz aus der Türkei und anderen Ländern nach Europa fliehen mussten«, warnte Zirngast.

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