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Corbyn könnte der zweite Platz reichen

Boris Johnson und seine Konservativen haben vor der Unterhauswahl viele Trümpfe in ihrer Hand, doch keinen möglichen Koalitionspartner

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Unterhaus gilt seit dem Gezerre um den EU-Austritt Großbritanniens als Ort heillosen Zanks. Nun wird um die Sitzverteilung im Parlament gestritten. An diesem Donnerstag wählen die Briten ihre neuen Unterhausabgeordneten. Klarer Favorit ist Premierminister Boris Johnson. Er liegt in den Umfragen mit seinen konservativen Tories deutlich vorne.

Nun kommt es jedoch nicht auf angekündigtes Wahlverhalten, sondern auf tatsächlich abgegebene Stimmen an. Fast zwei Millionen Briten unter 35 Jahren haben sich neu in die Wählerlisten eintragen lassen, das sind 40 Prozent mehr als 2017. Und in dieser Altersgruppe führt Labour deutlich. Schwarze und andere Minderheiten sind nicht gesondert untersucht worden. Doch auch unter ihnen steht bekanntlich Labour hoch im Kurs.

Beim britischen Mehrheitswahlrecht wählt immer eine Minderheit aus taktischen Gründen, leiht die Stimme etwa an den bestplatzierten Gegner des konservativen Kandidaten. Außerdem hätten die Tories im Parlament keine Bündnispartner. Das heißt: Auch als zahlenmäßig zweiter Sieger könnte Jeremy Corbyn mithilfe von Liberaldemokraten und Schottischen Nationalisten Premierminister werden, sofern seine Labour Party 20 oder 30 weitere konservative Wahlkreise gewinnt. Ohne absolute Mehrheit wäre Johnson dagegen weg vom Fenster - kleine Hoffnungsfunken für einen Machtwechsel.

Das Problem aber: Labour muss eher befürchten weitere Mandate zu verlieren als neue hinzuzugewinnen. Ältere weiße Arbeiterwähler in Nord- und Mittelengland wenden sich anscheinend scharenweise von ihrer früheren politischen Heimat ab. Erstens glauben sie, dass nach Jahren der Austeritätspolitik alles anders werden muss und dass dies nur durch den von Johnson angestrebten EU-Austritt zu erreichen ist. Zweitens gilt Jeremy Corbyn bei diesen bisherigen Traditionswählern als zu wenig patriotisch, zu links und mit seinen 70 Jahren als zu alt. Mag dies als unfair gelten: »Jezza« ist der bei Weitem unbeliebteste Parteichef Britanniens. Ein dritter Faktor: Labour-Regierungen haben sich immer auf eine stattliche Anzahl von schottischen Abgeordneten stützen können. Nach dem Erdrutschsieg von Nicola Sturgeons Nationalisten 2015 stellt Labour zur Zeit jedoch nur sieben Volksvertreter nördlich des Tweed. Die Sozialdemokraten laufen überdies Gefahr, auch einige dieser mit hauchdünner Mehrheit gehaltenen Sitze zu verlieren. Alle diese Gründe machen einen Corbyn-Umzug in die Downing Street Nummer 10 unwahrscheinlich.

Labours späte Aufholjagd
Während die Tories nur den Brexit als Thema haben, gewinnen die Sozialdemokraten mit sozialen Themen an Boden

Dabei ist das Tory-Programm außer dem von Johnson roboterhaft wiederholten Slogan »Schafft endlich den Brexit!« ausgesprochen dürftig. 20 000 mehr Polizisten soll es geben. Aber seit 2010 haben die Konservativen unter David Cameron und Theresa May 21 000 Bobbies entlassen. Aus versprochenen 40 funkelnagelneuen Krankenhäusern wurden bei näherer Betrachtung ganze sechs bestehende, die instand gesetzt werden sollen. Nach den Brexit-Lügen, den Beschimpfungen von Burka-tragenden Muslima, ledigen Müttern und schwarzen Kindern gilt Johnsons Verhältnis zur Wahrheit als etwa so gestört wie die seines Freundes und US-Präsidenten Donald Trump.

Dagegen sind Labours Pläne für Vergesellschaftungen bei Bahn, Post, Wasser- und Energieversorgern ausgesprochen beliebt; auch die angebotene kostenlose Ausweitung der Breitbandinternetverkabelung und die Abschaffung der hohen Studiengebühren hätten durchaus Wahlkampfrenner werden können. Aber gegen das deutliche Tory-Übergewicht im Blätterwald kommt die Opposition nicht an. Hier wird der Antisemitismusvorwurf gegen Labour genüsslich ausgebreitet, obwohl die Partei judenfeindliche Mitglieder wie den Abgeordneten Chris Williamson rausgeschmissen hat.

Dagegen grassiert unter den Konservativen die Islamophobie: Sayeeda Warsi, einstige Generalsekretärin der Tories, »fühlt sich als Muslima von ihrer Partei missbraucht«. Frühere konservative Galionsfiguren wie Ex-Premierminister John Major und sein Stellvertreter Ken Clarke empfehlen, die Stimme nicht den Kandidaten der eigenen Partei zu geben. Aber solche Stellungnahmen werden von den meisten Zeitungen heruntergespielt.

Zu guter Letzt: Bei der Wahlkampffinanzierung haben die Konservativen siebenmal mehr eingenommen als Labour, darunter mehr als sechs Millionen Euro allein von sechs Großspendern. So hat im Lande der geschätzten 320 000 Obdachlosen und 2000 Tafeln Boris Johnson gut lachen.

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