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  • Selbstsorge im Wandel

Morgens Fango, abends Tango

Von altbackener Kassenkur zum hippen Wellness-Spa: Selbstsorge im Wandel

  • Dorothea Schmidt
  • Lesedauer: 11 Min.

Care-TheoretikerInnen beschäftigen sich mit der Sorge für andere ebenso wie mit der Sorge für sich selbst: die Selbstsorge als Basis aller übrigen Care-Arbeit. Nur wer selbst einigermaßen gut beisammen ist, kann sich auch um andere kümmern. So schreibt Gabriele Winker: »Sorgearbeit für sich selbst ist im Beruf, in der Familie und in allen anderen Lebensbereichen notwendig, um das eigene Arbeitsvermögen aufrechtzuhalten. Sie umfasst die Sorge um die eigene Gesundheit und Bildung sowie die Anstrengungen, unter den gegebenen Rahmenbedingungen im Alltag funktionsfähig zu bleiben.« Dieser Anspruch gelte heute, da der Neoliberalismus uns das Diktat der Selbstverantwortung und Selbstoptimierung aufgedrückt habe, als besonders schwer einlösbar. Ständig müssten wir an uns arbeiten, um fit, schön, gesund, gescheit und offen für neue Herausforderungen zu sein. Kein Wunder, wenn nun alle, vor allem die Frauen, angeblich permanent überfordert sind, zumal sie, so Winker, die notwendige Reproduktionsarbeit »in Eigenregie« erledigen müssen, da sich »traditionelle Normen und damit Gewissheiten und Sicherheiten« aufgelöst hätten.

Aber sind Frauen (und auch Männer) tatsächlich ganz auf sich allein gestellt, wenn sie, ob überfordert oder nicht, etwas für ihr körperliches, eventuell auch geistiges und seelisches Wohl tun möchten? Sie waren es früher nicht – und sie sind es auch heute nicht, selbst wenn die »traditionellen Normen« sich zweifellos geändert haben. Schon seit langem gibt es dafür (hier am Beispiel Deutschlands) eine weit ausgedehnte Infrastruktur und entsprechende Dienstleistungen. Nicht erst der Neoliberalismus hat sich dafür interessiert, das Arbeitsvermögen der Beschäftigten aufrechtzuerhalten, bereits der Wohlfahrtsstaat sah hier Handlungsbedarf und hat ihnen ein Gutteil ihrer Selbstverantwortung abgenommen, unter anderem durch den Ausbau des Kurwesens, das mittlerweile durch Wellness-Einrichtungen teilweise ersetzt, teilweise ergänzt wurde. Inwiefern haben sich diese Hilfen zur Selbstsorge geändert? Zudem: Wer kam und wer kommt in den Genuss von Wasserkuren, Strandgymnastik oder Massagen – und wer nicht?

Ebenso wie in anderen Bereichen des Tourismus entwickelte sich die Gepflogenheit, Seebäder und Heilquellen zu besuchen, zunächst in der Gesellschaftsschicht der »Schönen und Reichen« des ausgehenden 18. und des anbrechenden 19. Jahrhunderts. Männer und Frauen des Adels und des wohlhabenden Bürgertums besuchten solche Orte zur Erholung, doch galten vielen von ihnen oftmals Spaziergänge in der Natur und die regelmäßige Trinkkur lediglich als Aufhänger für ihre Badereisen, und sie verbrachten mehr Zeit bei diversen Vergnügungen, etwa in Spielkasinos. Und selbst für jene, die sich nicht fürs Glücksspiel interessierten, boten Kurorte ein intensives und abwechslungsreiches Gesellschaftsleben. Einer der berühmtesten Kurgäste der Zeit nach 1800 war Johann Wolfgang von Goethe, der in seinen späteren Lebensjahren fast jedes Jahr zur Kur fuhr, unter anderem nach Karlsbad.

Als im Deutschen Reich 1873 Glücksspiele verboten wurden, mussten auch die Spielkasinos schließen, was zu einem drastischen Rückgang der Gästezahlen führte. Damit traten allerdings die gesundheitlichen Ansprüche wieder in den Vordergrund, und Orte wie Wörishofen erfuhren seit den 1880er Jahren mit den Wasserkuren des Pfarrers Sebastian Kneipp einen lebhaften Aufschwung. Hier ging es nicht darum, sich zu amüsieren und elegant zu promenieren, sondern die strengen Lebensregeln des »Wasserdoktors« zu befolgen, zu denen kalte Güsse und Wassertreten gehörten.

Auch andernorts spielte sich ein Kompromiss zwischen Gesundheitsanwendungen und Vergnügungen ein. Hermann Hesse fuhr in den 1920er Jahren wegen wiederholter Ischiaserkrankungen regelmäßig zur Kur ins schweizerische Baden und notierte in der Erzählung »Der Kurgast«, mit welchen Erwartungen er sich dort einfand: »Drei, vier Wochen galt es nun hier auszuhalten, täglich zu baden, möglichst viel spazieren zu gehen, sich Aufregungen und Sorgen möglichst fern zu halten.« Das versprach Langeweile und Eintönigkeit, aber bald erschienen ihm »Bäder, Trinkkur, Diathermie, Quarzlampe, Heilgymnastik« als nicht nur heilsame, sondern sogar »amüsante Dinge«. Im Lauf der Wochen ließ sein Enthusiasmus gegenüber den peniblen Kurvorschriften allerdings wieder deutlich nach, doch gehörte zu einer damaligen Kur meist auch eine feine Küche, denn »in der Tat gibt es wohl im Lande wenige Orte und Gasthäuser, wo die Leute so gut und reichlich schmausen, wie die Stoffwechselkranken in Baden es tun.« Daneben umfasste der übliche Kurbetrieb häufige Kurkonzerte, für die sich Hesse aber nicht erwärmen konnte, da hier keine »richtige Musik« dargeboten wurde, sondern »Kunststücke, Bearbeitungen und Arrangements«.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren unterschiedliche Arten von Kurorten entstanden: Mineral- und Moorheilbäder, Kneippheilbäder, Luftkurorte und Seebäder. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts rückten Kuren in der Bundesrepublik und in der DDR für breite Schichten der Bevölkerung in den Bereich des Möglichen. In der Bundesrepublik durch die Rentenreform von 1957, bei der neben der Dynamisierung der Renten auch der Grundsatz »Rehabilitation vor Rente« eingeführt wurde. Krankenkassen und Rentenversicherungen sollten die Kosten für Kuren, die seither als Regelleistung galten, weitgehend übernehmen, um durch Präventionsmaßnahmen und Rehabilitation die Gesundheit von PatientInnen so weit zu garantieren oder wiederherzustellen, dass sie erwerbstätig sein konnten und nicht zu Frührentnern wurden. Man war daher großzügig mit der Gewährung von Kuren. In den Jahrzehnten bis zur deutschen Einheit wurden fast 90 Prozent aller Anträge zur medizinischen Rehabilitation positiv beschieden und die Zahl der Kurgäste, Männer wie Frauen, stieg stetig an (wenngleich der Anteil der Frauen nur bei etwa drei Vierteln im Vergleich zu den Männern lag). Mitte der 1990er Jahre wurden von der Rentenversicherung 900.000, von der Krankenversicherung 1,2 Millionen Kuren bewilligt. Die Kurkliniken und Kurhäuser, die Hotels, Pensionen und Gaststätten in Kurorten expandierten.

In der DDR war man ebenfalls darum bemüht, den »Werktätigen« den Zugang zu Kuren, insbesondere in den Ostseebädern, über den Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes und über die staatliche Sozialversicherung zu ermöglichen. Offiziell wurde dies damit begründet, die luxuriöse Regeneration, zu der früher nur die Bourgeoisie Zugang gehabt hatte, nun für die gesamte Bevölkerung öffnen zu wollen. Faktisch war das Regime aber auch hier genauso bestrebt, den Erhalt oder die Wiederherstellung von Erwerbsfähigkeit in die Wege zu leiten.

Ähnlich wie Hermann Hesse es bereits für die 1920er Jahre beschrieben hatte, waren die Kuren da und dort einem strengen, medizinisch begründeten Regiment unterworfen. Bevorzugt wurde die stationäre Behandlung gegenüber ambulanten Formen. Kuren fanden häufig in anstaltsmäßigen Kurmittelhäusern statt und es herrschte zuweilen eine freudlose Atmosphäre von fader Schonkost, Kompressionsstrümpfen und Krankenkassenbrillen. Das System war für viele ohne große Hürden zugänglich, bevormundete allerdings auch. Doch bot man den Kurgästen – wie in Hesses Beschreibung – in begrenztem Ausmaß die Möglichkeit eines Ausgleichs der strengen Anforderungen des Tages: »Morgens Fango, abends Tango«.

Seit Mitte der 1970er Jahre sollten in der Bundesrepublik die angeblichen Auswüchse des Sozialstaats durch eine harte Sparpolitik beschnitten werden, was zwei Jahrzehnte später auch das Kurwesen traf. In den Jahren 1996/97 kam es unter der Federführung von Gesundheitsminister Seehofer zu einem Beitragsentlastungsgesetz, das darauf abzielte, die Lohnnebenkosten zu senken, unter anderem indem die Ausgaben für Rehabilitation reduziert werden sollten. Die neuen Regelungen führten zu massiven Einbrüchen in Heilbädern und Kurorten. Viele davon verloren die Hälfte ihrer Gäste, Kurkliniken mussten schließen, und etliche Gesundheitseinrichtungen blieben fürs Erste verwaist zurück.

Doch die finanzielle Rosskur bahnte auch den Weg zu neuen Konzepten und Angeboten. Bereits seit einigen Jahren wurde das bisherige medizinische Verständnis, wonach PatientInnen die Rolle von passiven Objekten einnahmen, die den Ratschlägen und Vorschriften von ExpertInnen willenlos zu folgen hatten, kritisiert. Wichtige Anstöße dafür kamen seit den 1970er Jahren aus den neuen sozialen Bewegungen, die Selbsthilfe in Gesundheitsläden organisierten und sich für ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit sowie für Ernährungsbewusstsein und alternative Heilmethoden aussprachen. Die Betonung von gesundheitlicher Selbstverantwortung war insofern keineswegs, wie seither oft dargestellt, eine Erfindung des Neoliberalismus. Wenn eine solche inzwischen als Gegensatz zur vorgeblichen »Rundumversorgung« eingefordert wird, dann wurden hierbei Konzepte instrumentalisiert und kommerzialisiert, die anderswo – nämlich in der alternativen Szene – entstanden waren.

Seit der Seehofer-Reform wurde ein Drittel der Anträge abgelehnt, und genehmigt wurden meist nur noch drei statt der früheren vier Wochen. An die Seite der Kurenden auf Krankenkassenkosten traten nun mehr und mehr Selbstzahler und die neue Wellness-Kundschaft. Gab es 1999 rund 16 Millionen Gäste in deutschen Kurorten, so stieg die Zahl der gesamten Ankünfte nach Angaben des Deutschen Heilbäderverbands bis 2015 auf mehr als 24 Millionen, also um 44 Prozent, wobei inzwischen Kurzurlaube bevorzugt wurden. Die Einrichtungen haben sich von dem Einschnitt durch die Gesundheitsreform erholt und es gelang ihnen, sich mit neuen Angeboten auf dem Tourismusmarkt zu behaupten. Seither sind nur noch der kleinere Teil der Gäste, etwa 10 Prozent, Reha- oder KassenpatientInnen, die sich dort für mehrere Wochen aufhalten. Dennoch ist die absolute Zahl der genehmigten Kuren seit Anfang der 1990er Jahre weitgehend gleich geblieben.

Am deutlichsten fiel der Wechsel vom Krankenkassen- zum Selbstzahler-Publikum bei den Seeheil- und Seebädern aus, deren Übernachtungen seit 1999 um rund 28 Prozent gestiegen sind, und von denen etwa Grömitz für den Besuch seines Wellariums mit den blumigen Worten wirbt: »Tauche ein in die ganz eigene Welt der Glücksgefühle und lasse dich treiben in großartigen Wohlfühlmomenten direkt am Meer.« Auch die Kneippbäder, die bereits in den Zeiten der Krankenkassen-Kuren sehr beliebt waren, haben ihr asketisch-dröges Image weitgehend hinter sich gelassen. Sie haben zwar nicht ähnlich spektakuläre Zuwächse wie die Seebäder aufzuweisen, sind aber in der Übernachtungsstatistik im Großen und Ganzen stabil geblieben.

Insgesamt gilt der Wellness-Markt als zukunftsträchtige Branche. Kurorte und Heilbäder kommen in neuerer Zeit auf einen jährlichen Umsatz von 30 Milliarden Euro, der somit höher als derjenige der chemischen Industrie ausfällt. Die Zahl der direkt und indirekt Beschäftigten liegt bei 500.000. Die 350 »prädikatisierten« Orte bilden allerdings nur einen Teil des touristischen Angebots. Denn dieses weist ein weites Spektrum weiterer Einrichtungen auf, wie Hotels mit Saunen, Fitness-Räumen und Gymnastik- oder Massageangeboten (Spas) – nach Branchenangaben mindestens 1.300. So kann man sich in der »größten Therme der Welt« im bayerischen Erding in mehreren Erlebnisbädern und einem »Crazy River« vergnügen, oder auch den Spa-Bereich mit Dutzenden von Saunen, Dampfbädern und Gesundheitsbecken nutzen, und schließlich unter den täglich 300 Beauty- und Wellnessangeboten, darunter Anti-Stress-Therapien, wählen.

Wellness ist kein rechtlich geschützter Begriff und erfuhr daher seit den 1990er Jahren eine inflationäre Verbreitung. Damit sind asiatische Gesundheitskonzepte, wie Traditionelle Chinesische Medizin, Ayurveda oder Yoga ebenso gemeint wie eine Fülle von Produkten der Naturkosmetik oder von Nahrungsergänzungsmitteln. Auch die Esoterik- und Ratgeberliteratur sowie einschlägige Seminare und Messen haben seither massenhaft zugenommen.

Der Grund für den gestiegenen Wellness-Tourismus ist somit das Interesse vieler Menschen, sich weniger als früher als passive Nutzer von Gesundheitsdiensten sehen zu wollen. Vielmehr möchten sie »etwas für ihre Gesundheit« tun: durch gesunde Ernährung und Naturheilmittel, durch Angebote für Meditation und Entspannung oder die »Reise zu sich selbst«. Das Publikum der boomenden Wellness-Einrichtungen ist bunt gemischt. Es umfasst Ältere oder Menschen mit chronischen Krankheiten, aber auch Jüngere, die Stress abbauen oder Detox als Ziel verfolgen. Zum größten Teil, zu 60 bis 70 Prozent, handelt es sich bei den Gästen um Frauen, die einen höheren Bildungsabschluss – häufig eine Hochschulausbildung – sowie ein überdurchschnittliches Einkommen aufweisen.

Vergleicht man die heutigen Zustände mit denen von vor 1914, zeigt sich eine frappierende Ähnlichkeit. Damals war das oftmals mondäne Kurleben lediglich den »Selbstzahlern« zugänglich, und auch in den heutigen Zeiten steht der Wohlfühltourismus nur denjenigen offen, die ihn sich leisten können – ob sie nun in der Sauna zum Zweck der Selbstoptimierung schwitzen oder einfach weil sie sich auf diese Art wohlfühlen. Wer nur mit Mühe einen wachsenden Teil seines Einkommens für die Miete aufbringt, fährt dagegen kaum ins Wellness-Spa, um sich dort ein paar Tage »rundum verwöhnen« zu lassen. Allenfalls wird ein billiges Fitnessstudio oder ein Kosmetiksalon am eigenen Wohnort besucht. Die sozialstaatlichen Angebote wurden insgesamt zurückgedrängt, wenn auch nicht gänzlich. So hat die Zahl der Mutter-Kind-Kuren, die von den Krankenkassen finanziert werden, in den letzten Jahren zugenommen. Ebenfalls sind die Anträge auf Leistungen zur Rehabilitation bei der Deutschen Rentenversicherung in den letzten dreißig Jahren stark angestiegen, wobei nur ein kleiner Teil bewilligt wurde. Es gilt also, sozialpolitische Errungenschaften früherer Zeiten zu verteidigen und in anderen Formen erneut einzufordern.

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