Posttraumatische Störungen

Der Brexit wird den politökonomischen Degenerierungsprozess nicht beenden

  • Heinz-J. Bontrup
  • Lesedauer: 8 Min.
Brexit: Posttraumatische Störungen

Am 18. Juni 2016, fünf Tage vor dem Brexit-Entscheid in Großbritannien, habe ich in der Zeitung »nd« geschrieben: »Die Briten werden nicht aus der Europäischen Union austreten. Am 23. Juni wird auf der Insel die ökonomische Vernunft siegen. Allerdings würde ich auch nicht verzweifeln, sollte es anders kommen. Die neoliberalen britischen Regierungen nerven einfach nur. Die Labour-Partei unter Tony Blair reiht sich da nahtlos ein. Ob Falkland-Krieg oder als Anhängsel der US-Amerikaner im Nahostkrieg, die Briten scheren aus – ohne Rücksicht auf die Europäische Union.«

OXI - Wirtschaft anders denken

Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd.DieWoche« beiliegt. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Schwerpunkt Großbritannien.

Weltmacht, Wiege der Industrialisierung, des Kapitalismus – heute ein gewesenes Imperium. Mit dem Brexit verbunden der Wunsch, wieder Großmacht zu werden, sich nicht einzufügen, sondern zu einstigem Glanz zu gelangen. Aber vielleicht kommt dabei auch nur »Little England« heraus. Ist es also ein Beispiel dafür, wie die Profieure des kapitalistischen Imperialismus altern, schrumpfen und zur Farce werden? In der Märzausgabe wird sich OXI der Ökonomie eines (anderen) Landes widmen. Und was bietet sich da besser an, als Großbritannien, ein Land an dessen Geschichte und Gegenwart sich viel über Ökonomik erzählen lässt.

Die Ausgabe kommt am 10. März 2023 zu den Abonnent*innen, am 11. März liegt sie zum letzten Mal für alle, die ein » nd.DieWoche«-Abo haben, exklusiv bei.
 

Die Vernunft siegte am 23. Juni 2016 aber bekanntlich nicht. Das Referendum war jedoch knapp. Für einen EU-Austritt stimmten 51,9 Prozent der Wähler*innen (etwa 17,4 Millionen bzw. 37,4 Prozent der wahlberechtigten Bürger*innen). Für einen Verbleib in der EU 48,1 Prozent (etwa 16,1 Millionen bzw. 34,6 Prozent der Wahlberechtigten). Eine Mehrheit für den Nichtaustritt aus der EU gab es in London, Schottland sowie in Nordirland – und unter den jungen Wähler*innen, die aber überwiegend nicht zur Wahl gingen. Es war ein großer Fehler, den aber offensichtlich bis heute auf der Insel keiner bemerkt hat, das Referendum nicht an ein höheres Abstimmungsvotum als an eine einfache Mehrheit zu knüpfen, z.B. an eine Zweidrittelmehrheit, wie es auch bei Verfassungsänderungen üblich ist. Selbst Gewerkschaften verlangen bei Streik-Urabstimmungen wesentlich mehr als nur 50 Prozent, bevor ein Streik beginnen kann.

So konnte dann der damalige Premierminister, David Cameron, von den konservativen Tories, die Brexit-Abstimmung völlig unverantwortlich für seinen polit-egomanischen Machterhaltskurs missbrauchen. Cameron war ab 2013 immer mehr unter politischen Druck geraten. Die Anti-EU-Partei UKIP mit ihrem Anführer Nigel Farage bekam wegen ihrer rassistischen Politik starken Zulauf und auch viele erzkonservative Tories standen nicht mehr hinter ihm. Deshalb verkündete Cameron, selbst EU-Befürworter, die Briten bis spätestens 2017 über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen. Nach der kassierten Niederlage erklärte er dann postwendend seinen Rücktritt und ist heute Investmentbanker und in Skandale verwickelt. Auch Farage verabschiedete sich, selbst nach seinem zerstörerischen Sieg, ohne je Verantwortung dafür zu übernehmen, sofort ins Privatleben. So viel zum Niveau von Politiker*innen.

Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke von den »Blättern für deutsche und internationale Politik« schrieb kurz nach dem Brexit: »Die Kampagne der Brexiteers basierte auf einem ungeheuren Lügengebäude [unterstützt vom Medienmogul Rupert Murdoch, HJB] – und das ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine Entscheidung handelte, die die Entwicklung Großbritanniens und der EU auf Generationen bestimmen wird. Die neuen Spielertypen können jedoch nur deshalb Erfolg haben, weil sie auf eine infantilisierte Spaßgesellschaft treffen. Diese hat die Unterschiede zwischen Politik und Unterhaltung weitgehend eingeebnet. Wo aber Politik zur bloßen Unterhaltung, zur bloßen Konsumentendemokratie – und zum Wettbewerb der Egomanen – verkommt, werden andere, genauer: keine Ansprüche mehr an die Wahrheit gestellt.«

Nach der Wahl war der Kater auf der Insel groß. »Das ganze Land leidet derzeit unter einem Post-Brexit-Trauma. Die britische Gesellschaft ist nach dem Referendum tiefer gespalten denn je«, so 2016 der Ökonom Michael R. Krätke von der Universität Lancester in Großbritannien. Nach 43 Jahren Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft kam es dann zu einem unwürdigen politischen Geschacher mit der EU. Jetzt musste nämlich die Frage beantwortet werden, wie sich denn konkret der Brexit vollziehen sollte. Unter den Nachfolgern von Cameron als Premierminister, Theresa May und Boris Johnson, beide Tories und neoliberale Hasardeure wie Cameron, dauerte es noch bis zum 1. Januar 2021, bis ein sogenannter »Partnerschaftsvertrag« zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich den endgültigen Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion besiegelte.

Seitdem kommen die Briten auch politisch im eigenen Land nicht mehr zur Ruhe. Nach dem Rücktritt von Johnson wurde für nicht einmal 50 Tage Liz Truss, ebenfalls von den Tories, Premierministerin, die dann aber aufgrund ihrer wahnwitzigen Steuersenkungspläne und dadurch ausgelöster Unruhen auf den Finanzmärkten zurücktreten musste und von einem weiteren Neoliberalen und Investmentbanker, Rishi Sunak, abgelöst wurde. Aber auch der wird im nächsten Jahr bei den Unterhauswahlen abgewählt werden und nach kurzer Zeit Geschichte sein. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit musste er den wegen einer Steueraffäre belasteten Generalsekretär seiner Tory-Partei, Nadhim Zahawi, aus dem Kabinett werfen.

Der mit der Einführung des Euros in der EU 1999 vollzogenen Währungsunion war Großbritannien erst gar nicht beigetreten, man wollte auf eine eigene Währung mit dem Pfund Sterling nicht verzichten. Das kann man ökonomisch durchaus nachvollziehen. Denn: Einer europäischen Einheitswährung, die automatisch ein festes Wechselkursregime impliziert, fehlt die Möglichkeit einer nationalen Geldpolitik. Dies hat weitreichende Folgen. So kann durch Ab- und Aufwertungen der Währung kein Einfluss mehr auf die wirtschaftliche Entwicklung im Land genommen werden. Und außerdem geht auch eine ökonomische Abstimmungsmöglichkeit mit der nationalen Fiskalpolitik, also der Staatsausgaben-, Steuer- und Staatsverschuldungspolitik, verloren.

Es gab für die Briten aber wohl auch emotionale und historische Gründe: Vor dem Ersten Weltkrieg war Großbritannien auf der Welt die führende Handelsnation. Die Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalgeschäfte, die man mit der ganzen Welt unterhielt, wurden weitgehend mit dem Pfund Sterling abgewickelt. Dies blieb auch so, bis nach dem Ersten Weltkrieg der Goldstandard zusammenbrach und mit dem Gold-Devisen-Standard das britische Pfund einer Konkurrenz durch die wirtschaftlich stark aufkommenden USA und den US-Dollar ausgesetzt wurde. Jetzt waren zwei Leitwährungen für die Welt maßgebend. Und es kam noch schlimmer für die Briten. In Bretton-Woods (USA), wo 1944 das neue Weltwährungssystem für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen wurde, blieb nur der US-Dollar als weltweite Leitwährung übrig. Konnten bis dahin auch die Briten weitgehend Geld drucken, so können seitdem nur noch die USA mehr importieren als exportieren und die Negativdifferenz mit selbst geschaffenen (gedruckten) Dollars bezahlen.

Trotzdem kam es auch in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer prosperierenden ökonomischen Entwicklung. Ab etwa Mitte der 1970er Jahre setzte jedoch immer mehr ein Verfall der ökonomischen Verhältnisse ein. Wie in anderen Ländern, auch in der Bundesrepublik, kam es sogar zu einer widersprüchlichen stagflatorischen Entwicklung, dem gleichzeitigen Auftreten von Stagnation mit Arbeitslosigkeit und Inflation. Dies wurde in der Wirtschaftswissenschaft von Neoklassikern und Neoliberalen zum Generalangriff, zum Rollback, auf den bis dahin praktizierten Keynesianismus benutzt. Seitdem wird eine mehr oder weniger weltweit verheerende Austeritätspolitik praktiziert.

Das gilt insbesondere für die neoliberal (radikal) ausgerichtete britische Politik, die auf der Insel seit Margaret Thatcher von allen Regierungen, auch von der Labour-Partei unter Tony Blair, umgesetzt wurde. Es kam zu heftigen Umverteilungsprozessen zulasten der Arbeiterschaft, aber auch des Mittelstands. Profiteur war das von der Politik hofierte international agierende Großkapital. Die Gesellschaften in der EU haben sich so immer mehr in Arm und Reich aufgespalten. Auch hier zahlt Großbritannien, die drittgrößte Volkswirtschaft in der EU nach Deutschland und Frankreich, einen hohen Preis.

Mit der ökonomischen Segmentierung geht gleichzeitig ein starker politischer Rechtsrutsch einher. Die Rechtspopulisten wurden durch den Neoliberalismus mit seinem inhärenten Wirtschaftskrieg aufgewertet und wieder hoffähig gemacht. Sie wettern gegen die EU-Blackbox. Der Brexit ist nur ein Indiz für eine schwerwiegende Verbitterung, Wut und Angst vor der Zukunft, schreibt der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister. »All das findet sich bei den Deklassierten wie auch bei immer breiteren Schichten der Bevölkerung – und es richtet sich nicht zuletzt gegen die Eliten einer neoliberal deformierten EU.« Der Brexit, und das ist das besonders Fatale, wird diesen gesamten politökonomischen Degenerierungsprozess in Großbritannien aber nicht beenden. Im Gegenteil: Er wird den Prozess noch nachhaltig verschärfen, wozu auch die ungelösten politischen Probleme und Auseinandersetzungen um die Autonomiebestrebungen von Schottland und Nordirland beitragen werden.

Wenn es auch heute noch schwierig ist, die kausalen Zusammenhänge der ökonomischen Auswirkungen des Brexits zu beziffern, so dürfte die langfristige Prognose aber eher negativ ausfallen. Das britische Pfund ist in Relation zum Euro, ohne Binnenmarktabsicherung, seit dem Brexit allerdings nicht so stark gesunken wie erwartet. Im Trend aber immerhin von 1,27 Euro für ein Pfund Sterling im Juni 2016 auf 1,14 Euro im Januar 2023, um gut 10 Prozent. Der niedrigste Kurs wurde im August 2019 mit 1,09 Euro erreicht. Das war ein Rückgang um gut 14 Prozent. Ähnlich sieht die Entwicklung im Verhältnis zum US-Dollar aus. Ein schwaches Pfund Sterling verteuert die eh schon zu hohen britischen Importe und heizt so die Inflation im Land an. Der Vorteil: Die Abwertung fördert den Export. Dies wird aber das viel zu hohe Leistungsbilanzdefizit Großbritanniens kaum verbessern. Ob hier das Ausland zukünftig den Briten weiter ein Leben über ihren ökonomischen Verhältnissen erlaubt und sie mit Kapital versorgt, das man dringend zur Finanzierung der binnenwirtschaftlichen Nettoinvestitionen benötigt, kann stark bezweifelt werden. Denn neben dem Leistungsbilanzdefizit ist zusätzlich der Staatssektor hoch verschuldet. Er absorbiert bereits einen Großteil der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis. Hinzu kommt ein fehlender (weil neoliberal zerstörter) Industriesektor und eine weitgehend abgeschriebene öffentliche Infrastruktur. Verknappte Arbeitsmärkte werden zudem das Wirtschaftswachstum belasten.

In Großbritannien wird man in Zukunft mehr produktiv und innovativ arbeiten müssen und gleichzeitig weniger konsumieren können. Die zusätzlichen Ersparnisse werden im Inland benötigt, was bedeutet, das Leistungsbilanzdefizit ist drastisch zu reduzieren. Kommt es dazu, wird es auf der Insel noch viel ungemütlicher, als es heute schon ist. Jedenfalls für die breiten Massen der Briten. Es sei denn, die vermögenden Briten geben von ihrem Reichtum einen Großteil ab. Aber wer glaubt schon daran.

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