»Wissen nicht, was das Ziel ist«

Die SPÖ-Abgeordnete Julia Herr über ein schwieriges Jahr für ihre Partei

  • Johannes Gress
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie sind seit knapp zehn Jahren SPÖ-Mitglied. Wie oft haben Sie in dieser Zeit über einen Austritt nachgedacht?

So weit, dass ich mir dachte, ich will austreten, war es noch nie. (Überlegt). Dass ich mir dachte, es läuft vieles falsch: sehr oft.

Derzeit ist wieder einmal die Rede von einer »Neuaufstellung«, einem »Neustart« oder einer »Revolution« in der SPÖ. Was bedeutet das konkret?

Man müsste die Programmatik erneuern. Vieles von dem, was wir als Glaubwürdigkeitsverlust oder Orientierungslosigkeit bezeichnen, liegt in einer fehlenden Programmatik begründet. Es braucht inhaltlich wieder eine Festigung. Mit einer Geschichte, die man erzählt, könnte man die Mehrheit der Partei wieder von etwas überzeugen und an etwas binden. Es gibt so viele gemeinsame Überzeugungen, die man hat, die muss man wieder einmal neu formulieren für die gegebenen Herausforderungen im Jahr 2019.

Das Grundübel ist, dass wir als SPÖ nicht so genau wissen, was eigentlich das Ziel ist. Das war lange Zeit der Sozialismus. Nach den 70er Jahren ist man von dem abgekommen, man hat falsche Wege eingeschlagen. Die hat man stellenweise korrigiert, weil ein Bewusstsein dafür entstanden ist, dass der reine Marktglaube, die »dritte Weg Politik«, also die Politik der 90er, ein Irrtum war. Aber das neue Ziel ist noch nicht ausformuliert – und das spürt man in der Bevölkerung.

Arbeiterinnen und Arbeiter wählen mittlerweile überwiegend die FPÖ, teilweise sogar die ÖVP. Die Linksliberalen gehen zu den Grünen. Wer soll da noch SPÖ wählen?

Ganz viele Arbeiterinnen und Arbeiter können nicht wählen. Wir haben ein massives Problem mit einem sehr restriktiven Staatsbürgerschaftsgesetz. Es gibt in Wien-Ottakring Bezirke, da können über 50 Prozent der Bevölkerung nicht zur Wahl gehen. Wenn wir uns anschauen, wen das trifft, dann sind das Personen mit eher niedrigerem Einkommen; genau die Menschen, die wir vertreten wollen. Wir müssten einmal das Wahlrecht reformieren und alle Menschen zur Wahlurne lassen. Das Proletariat, von dem wir im 18. und 19. Jahrhundert gesprochen haben, hat sich halt verändert. Die Personen, die wir jetzt eigentlich vertreten wollen, können teilweise nicht einmal mehr zur Wahlurne gehen ...

Die Analyse, dass »das Proletariat« nicht mehr existiert, gibt‘s schon seit Jahrzehnten ...

... gleichzeitig gibt’s immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse. Wenn wir uns ansehen, wie junge Menschen beschäftigt sind, die entweder in irgendwelchen ausbeuterischen Verträgen festsitzen oder gar keinen Job haben und von unbezahltem Praktikum zu Praktikum gehen ... Dann gibt’s die Putzfrau, die offiziell selbstständig ist und keinerlei Ansprüche auf irgendwelche Absicherungen hat. Also ich glaube, es verändern sich die Arbeitsverhältnisse derzeit massiv ins Negative. Beispielsweise auch die skandalösen Arbeitsbedingungen der Paketzustellerinnen und -zusteller, über die derzeit debattiert wird. Also eigentlich müsste das gerade die Zeit der Sozialdemokratie sein. Es würden uns gerade ganz viele Menschen dringend brauchen. Wir müssen wieder unseren Job erledigen und sichere Arbeitsverhältnisse schaffen. Nur wir werden es mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr schaffen. Angesichts von Uber, Airbnb, usw. braucht es neue Antworten.

Es müsste die Zeit der Sozialdemokratie sein. Wieso ist sie es nicht?

Ich glaube, dass der Mut fehlt, zu sagen: Wir leben derzeit in einem ausbeuterischen, kapitalistischen Wirtschaftssystem, das einer kleinen Elite massive Gewinne zuschanzt, aber für die breite Bevölkerung – auch in Österreich – über die vergangenen 20 Jahre in Form von unsicherem Arbeitsmarkt und schlechter Reallohnentwicklung keinen Wohlstandszugewinn mehr bietet. Das müssen wir wieder klar benennen! Mit so einem Zustand wollte sich unsere Bewegung nie zufriedengeben, weil wir immer mehr wollten.

Bei Ihrer letztjährigen Wiederwahl zur SJ-Vorsitzenden sagten Sie, es gilt, »das kapitalistische Wirtschaftssystem zu zerbrechen, den Kapitalismus zu überwinden« – ist die heutige SPÖ die richtige Partei für so ein Projekt?

Ja, ich sehe keine Alternative.

Innerhalb sozialdemokratischer Parteien scheint es, als sei die Klimakrise zwar ein Anliegen, andererseits möchte man aber Arbeitsplätze behalten ...

... ja, das ist ein Problem! Wenn wir denken, Arbeitsplatz oder Umweltschutz, dann haben wir verloren. Wir brauchen beides. Wir haben deswegen einen Green New Deal geschrieben. Die große Wende, die wir durchführen müssen in den nächsten 20 Jahren, ist, unser Wirtschaftssystem auf den Kopf zu stellen – und zwar so, dass in einer CO2-neutralen Zukunft jeder seine Arbeitskraft in Form von einer Beschäftigungsgarantie einbringen kann. Die Klimakrise steht bevor und wir müssen sie so nutzen, dass wir am Ende nicht nur die Umwelt gerettet haben, sondern für alle eine bessere Gesellschaft erkämpft haben. Es gibt kein Entweder-oder; es muss beides sein. Wir müssen die Veränderung sozialdemokratisch gestalten, sonst wird sich die Verteilungsfrage verschärfen.

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