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  • Karl Marx

Nach der Agrarrevolution

Für Karl Marx bedeutete die Durchsetzung des Kapitalismus vor allem Agrarrevolution. Ein Platz für Bauern war darin ebenso wenig mehr vorgesehen wie eine Rolle in den kommenden Revolutionen

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 9 Min.

Am Anfang des Kapitalismus stand die Agrarrevolution. Jedenfalls für Karl Marx, der sich in den Vorarbeiten zum dritten Band des »Kapitals« und den geplanten weiteren intensiv mit ihr beschäftigte. In den Manuskripten etwa, die später als »Theorien über den Mehrwert« veröffentlicht wurden, wird »die Loslösung des Arbeiters von der Erde und vom Grundeigentum« explizit als die entscheidende »Grundbedingung für die kapitalistische Produktion und die Produktion des Kapitals« benannt. Und auch wenn Marx im ersten Band seines Hauptwerkes in Anlehnung an Adam Smiths Vorstellung von der evolutionären Genese des Kaufmanns zum Kapitalisten schrieb, »Welthandel und Weltmarkt« hätten »im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals« eröffnet, so war dieser Prozess für ihn doch zunächst mehr Antizipation als Durchsetzung.

Denn nur als Geldvermögen, Kaufmanns- und Wucherkapital habe das Kapital »dem Grundeigentum zunächst in der Form von Geld« gegenüber- beziehungsweise zur Seite treten können, ohne sich jedoch dabei die Arbeitsverhältnisse selbst unterwerfen zu können. Im Gegenteil: Der marxistische US-Ökonom Robert Brenner hat in seinen Untersuchungen über die »Agrarian Roots of Modern Capitalism« in den 1970er Jahren sogar betont, dass die Bindung des Handelskapitals an die Konsumbedürfnisse der Feudalherren nicht nur »keiner kapitalistischen Dynamik unterworfen war«, sondern eher als Blockade der Transformation gewirkt habe.

Dagegen konnte die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapitalverhältnis erst beginnen, als auch der Boden der Grundherrschaft entrissen und zur Ware gemacht, die Geldrente durchgesetzt, die Gemeinderechte privatisiert, die Landwirtschaft rationalisiert, die Heimindustrie zerschlagen und Arbeitskraft in der Folge massenhaft freigesetzt wurde, um für die Akkumulation des industriellen Kapitals vernutzt werden zu können.

»Die Expropriation und Verjagung eines Teils des Landvolks setzt mit den Arbeitern nicht nur ihre Lebensmittel und ihr Arbeitsmaterial für das industrielle Kapital frei, sie schafft den inneren Markt«, heißt es in dem berühmten 24. Kapitel über die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation«. Hier erst ende die Vorgeschichte der neuen Produktionsweise, was allerdings damals vollständig entfaltet nur für England galt. Dieses Bauernlegen im Mutterland des Kapitalismus, das vom Pachtverhältnis zum agrarischen Großbetrieb geführt hatte, betrachtete der Alte aus Trier allerdings in naher Zukunft unbedingt als unumgänglichen Prozess auch für andere Länder.

Da lag es nahe, nur wenige Gedanken an die zu verschwenden, deren Untergang sowieso ausgemacht war. »In der Sphäre der Agrikultur wirkt die große Industrie insofern am revolutionärsten, als sie das Bollwerk der alten Gesellschaft vernichtet, den ›Bauer‹ (sic!), und ihm den Lohnarbeiter unterschiebt«, heißt es nicht ohne Begeisterung im »Kapital«. Und auch wenn sich Marx gerade in Hinsicht auf den »vollendeten Raubbau« an Mensch und Boden durch die sich bildende Agrarindustrie wenig Illusionen machte, so galten ihm die Bauern als untergehende Klasse, der man kaum Tränen nachweinen müsste.

Schon im »Manifest der Kommunistischen Partei« war ihm und Friedrich Engels die Auflösung der »Idiotie des Landlebens« eher als Glücksversprechen des heraufziehenden Kapitalismus erschienen denn als Problem. Und noch zwei Jahrzehnte später vermerkte er, dass »das kleine Grundeigentum eine halb außerhalb der Gesellschaft stehende Klasse von Barbaren schafft, die alle Rohheit primitiver Gesellschaftsformen mit allen Qualen und aller Misere zivilisierter Länder verbindet«.

Noch aber waren diese »Barbaren« präsent. Und was sich für den visionären Kritiker der Politischen Ökonomie zukünftig wie von unsichtbarer Zauberhand erledigen würde, stellte sich für den Revolutionär als kaum zu lösendes Problem dar. Im »Manifest« schien die Sache noch klar zu sein: Der »mit blinder Liebe an seinem Stückchen Erde und seinem bloß nominellen Besitzrecht« hängende Bauer müsse unvermeidlich in einen »höchst verhängnisvollen Gegensatz zur Industriearbeiterklasse« geraten.

Dass dies in den 1848er Revolutionen genau so geschah, war dann allerdings auch für die wenigen Kommunisten mehr als beunruhigend. Denn vor allem die Speerspitze der europäischen Revolution, die Pariser Arbeiter, hatten den Machtmitteln der herrschenden Klasse entgegen allen Hoffnungen nicht standhalten können. Diese Erfahrung lehrte Marx, dass dieser nicht beizukommen sei, solange sich »die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie stehende Klasse der Nation, Bauern und Kleinbürger,nicht gegen diese Ordnung, gegen die Herrschaft des Kapitals empört, sie gezwungen hatte, sich den Proletariern als ihren Vorkämpfern anzuschließen«.

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Der Schock, dass dank des allgemeinen Wahlrechts ausgerechnet die französischen Bauern zu den »Schiedsrichtern« in den Klassenkämpfen geworden waren – und sich ganz überwiegend für die Diktatur Louis Bonapartes entschieden hatten –, saß tief. Und dies war kein rein französisches Problem. Nirgendwo in Europa, anders als in der Französischen Revolution, hatten die Bauern die revolutionären Heerscharen aufgestockt. Und mehr noch: Außer in England, wo es schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts »keine Bauernschaft im kontinentaleuropäischen Sinne« mehr gegeben hatte, wie Eric Hobsbawm in seiner großen britischen Wirtschaftsgeschichte »Industrie und Empire« festgestellt hat, konnte von einem Verschwinden der Bauern von der Bühne der Weltgeschichte keine Rede sein.

In allen europäischen Ländern blieben die Bauern nicht nur präsent, sondern bildeten allen Industrialisierungsanstrengungen zum Trotz noch bis zum Ersten Weltkrieg die Mehrheit der Bevölkerung. In seinen späteren Studien, auch angeregt durch diese politische Erfahrung, hat Marx dies auf die Kapitalschwäche der kleinen und mittelgroßen Gehöfte zurückgeführt: Zu klein, um andere zu verdrängen, aber groß genug, um weiter zu existieren – und sei es auch nur, um die Schulden zu tilgen. Hier herrschten zwar »unendliche Zersplitterung der Produktionsmittel und Vereinzelung der Produzenten selbst«, dazu eine »ungeheure Verschwendung von Menschenkraft«, dies aber mit erstaunlicher Zähigkeit. Wie haltbar diese war, ersieht man daraus, dass die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) erst um die Jahrtausendwende weltweit mehr Lohnarbeiter als Bauern zählte.

Vorerst also mussten Marx und seine Mitkämpfer mit jenen rechnen. »Je mehr ich aber den Dreck treibe, um so mehr überzeuge ich mich«, schrieb ein deprimierter Marx an seinen Freund Engels im Jahr 1851, »daß die Reform der Agrikultur, also auch der darauf basierenden Eigentumsscheiße, das A und O der kommenden Umwälzung ist.« In Anlehnung an seine im Jahr zuvor aufgrund der Niederlagen in den Aufständen verfassten »Ansprache an die Zentralbehörde« des Bundes der Kommunisten entwickelte Konzeption der »Revolution in Permanenz« musste die Hoffnung darin bestehen, dass die Bauern sich enttäuscht von der Bourgeoisie abwenden und unter der Fahne der Arbeiterrevolution sammeln würden. Erst dann »erhalte die proletarische Revolution das Chor, ohne das ihr Sologesang in allen Bauernnationen zum Sterbelied wird«, wie es in »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« heißt.

In der konterrevolutionären Epoche, die sich bis weit in die 1860er Jahre hineinzog, blieb dies allerdings eine rein abstrakte Idee. Weder sammelten die Arbeiter neue Kraft, um sich dem Bündnis der besitzenden Klassen entgegenzustellen, noch gab es auch nur in Ansätzen revolutionäre Bestrebungen unter der Landbevölkerung. Und so verlor auch Marx wieder jegliches Interesse an einer weiteren Beschäftigung mit ihr.

Erst über ein Jahrzehnt später stellte sich die Bündnisfrage erneut. Allerdings auch hier weniger praktisch denn theoretisch. In der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) forderten die Anhänger Pierre-Joseph Proudhons insbesondere in der Agrarfrage Marx und seine Anhänger heraus.

Proudhon hatte stets in jakobinischer Tradition gefordert, die Forderungen nach einer Verteidigung des kleinen Grundbesitzes und nach Bodenreformen auf Kosten der Grundherren in das sozialistische Programm aufzunehmen – und so ein echtes Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern herzustellen. Etwas, das Marx nicht im Entferntesten zu akzeptieren bereit war. Kein Bündnis, sondern eine Unterordnung der die Vergangenheit repräsentierenden Bauern unter die zukunftweisende Fahne des Sozialismus und damit der »Angriff auf das Grundeigentum überhaupt« schwebte dem intensiv an seinem Hauptwerk Arbeitenden vor. Auf drei aufeinanderfolgenden Kongressen der IAA zwischen 1867 und 1869 prallten die Auffassungen der beiden Strömungen hart aufeinander. Und die Marxisten und ihr Programm der Nationalisierung von Grund und Boden siegten.

Die Konsequenz bis hin zur Spaltung der IAA, die Marx und Engels hier an den Tag legten, mag zunächst überraschen, denn nach wie vor handelte es sich um eine rein theoretische Frage. Nirgendwo, auch nicht 1871 in den Tagen der Pariser Commune, spielte die Agrarfrage irgendeine Rolle. Aber es ging ums Prinzip: Unter keinen Umständen sollte die Arbeiterbewegung, selbst in ihrer Frühphase, zum Vollstrecker der kapitalistischen Agrarrevolution oder gar zum Hemmschuh für die Industrialisierung der Landwirtschaft werden.

Und so reagierten die Doyens der internationalen sozialistischen Bewegung auch ziemlich entnervt auf die Debatten ausgerechnet innerhalb der Partei ihres Heimatlandes. Vor allem Wilhelm Liebknecht versuchte innerhalb der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) eine flexible Auslegung der Beschlüsse des Basler Kongresses von 1869 zu erreichen. In einem Brief an Engels warnte er diesen eindringlich davor, zu glauben, die Arbeiter könnten ohne Unterstützung der Bauern eine Revolution machen. »Wie die Dinge jetzt liegen, würde das städtische Proletariat von den Bauern mit Dreschflegeln totgeschlagen werden«, so Liebknecht. Engels’ Antwort war wenig versöhnlich. »Albernheit und Schwäche« würden dieser Position zugrunde liegen.

Als dann August Bebel auf dem Parteitag der SDAP 1870 einen Kompromiss durchsetzte, nach dem der nationalisierte Boden »von Staats wegen an Ackerbaugenossenschaften zu verpachten« sein sollte, war selbst dies Marx zu vage. 1872 formulierte er in einem kurzen Artikel für den »International Herald«, das Organ der britischen Sektion der Internationale, seine Thesen »Über die Nationalisierung des Grund und Bodens«. Darin erteilte er auch einer solchen Verpachtung des nationalisierten Bodens »an Einzelpersonen oder Arbeitergenossenschaften« eine rigide Absage, würde dies doch heißen, »die ganze Gesellschaft einer besonderen Klasse von Produzenten auszuliefern«.

Es sollte allerdings noch 30 Jahre dauern, bis sich diese Sichtweise durchsetzte und der Gralshüter des Marxismus innerhalb der SPD, Karl Kautsky, das daran orientierte erste sozialistische Agrarprogramm der Partei entwarf. Ganz fortschrittsoptimistisch warb er darin für die Zusammenfassung der Höfe zu Staatsfarmen und die Erhöhung der Produktivität. Für Bauern war hier kein Platz mehr vorgesehen.

Dies entsprach zweifelsohne Marx’ Position. Lediglich um die Revolution in dem ihm zeit seines Lebens als »Hort der schlimmsten Reaktion« verhassten Russland anzufachen, war er bereit, kleine Zugeständnisse zu machen. Nach Kontakten mit der russischen Revolutionärin Vera Sassulitsch formulierten die Verfasser des »Kommunistischen Manifests« in einer sehr kurzen Vorrede zur zweiten russischen Auflage dieser Schrift, dass das »jetzige russische Gemeineigentum (die Obschtschina) am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen« könnte. Allerdings, so schränkten sie sogleich ein, nur als »Signal einer proletarischen Revolution im Westen«. Ansonsten überwog selbst in diesem Text die Begeisterung über das US-amerikanische Farmwesen als »fabelhafte Konzentration der Kapitalien«.

Hin- und hergerissen zwischen revolutionär-strategischen Anforderungen und programmatischer Klarheit entschieden Marx und Engels sich stets für Zweiteres. Und so formulierten sie letztlich ein Programm für Zeiten nach der erfolgten Agrarrevolution – letztlich nicht ihre eigene Zeit, sondern die Zukunft.

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