Kommando Dachterrasse

Florian Schmid stößt auf die Pionierwerke der Coronosophie an

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer sich derzeit dem Deutschlandradio-Gebabbel der Großgedankenbranche aussetzte, kann zu der Meinung gelangen, dass deren Erzeugnisse nicht systemrelevant seien. Neugierig war man dann aber doch, zumindest sportlich gesehen. Also darauf, wer jene Großgedanken zuerst angemessen feilbieten würde: zwischen Buchdeckeln.

Dass hiesige Starter - Bude! Nassehi! Was sagen Habermas und Reckwitz? - nicht das Rennen machen würden, war klar. Ist doch die deutsche nicht nur eine schwere, sondern auch langsame Sprache. Dennoch: Überraschung! Sie haben Ihre Wette verloren: Obsiegt hat der italienische Bestseller-Physiker Paolo Giordano mit »In Zeiten der Ansteckung«. Favorit Slavoj Žižek aber läuft mit »Pandemic« nur auf Platz zwei ein.

Trotzdem hat Žižek das schnellste Corona-Buch geschrieben. Am schnellsten zu Lesen nämlich. Die hundert nicht eben eng bedruckten Seiten gehen glatt herunter, weil man als Konsument aufregender Weltdeutungsliteratur an Žižeks im Cut-up-Verfahren fabrizierte hegelmarxistische Theorieslalom-Logorrhoe inzwischen gleichermaßen gewöhnt ist, wie man als deutscher TV-Bürger die Handlung eines »Tatorts« auch dann umgehend erfasst, wenn man erst zur Halbzeit einschaltet. Und immerhin: Žižek lässt das Dachterrassengerede à la »Sinngewinn durch Entschleunigungserfahrung« beiseite und stellt auch nicht die grundstürzend dämliche Frage, zu der jüngst der »Tagesspiegel« diese Privilegiertenperspektive verdichtet: Warum es nur so furchtbar schwer sei, die viral gewonnene Zeit »nicht zur Selbstoptimierung zu nutzen«.

Stattdessen bedient Žižek die zweite Schiene der publizistischen Coronosophie, das Narrativ vom »Virus als Zeitenwende«. Er reiht sich nicht ganz so platt wie andere in jenes Wunschdenken vom nunmehr erledigten Neoliberalismus ein. Doch entspringt auch bei ihm der Intensivstation am Ende der »Kommunismus«. Auch wenn es sich süffig liest, wie hierbei der Weltgeist namens Corona ausgerechnet Boris Johnson zur Rückverstaatlichung der Bahn veranlasst, verfällt Žižek dabei in eine simple Dichotomie von »Markt« und »Staat«, als wäre Letzterer nicht Teil des Ersteren.

Wo Žižek das Virus als parasitären »Living Dead« vorstellt, schütteln Evolutionsbiologen den Kopf - und wo er es gar »demokratisch« nennt, weil es alle gleich behandle, überholt ihn die »Tagesschau« an Klassenbewusstsein. So führt sein Blitzbuch zu zwei Erkenntnissen: Dass erstens Corona bisher kein Einschnitt ist, sondern alle das gleiche schreiben wie zuvor, wenn auch vielleicht ein bisschen schneller.

Und dass zweitens Bude et al. ihre avisierten Variationen zum Thema »Jetzt müssen alle über globale Solidarität nachdenken und erfahren den Begriff des Kollektivs ganz neu« nicht ausführlich aufzuschreiben brauchen. Denn auch diesen Gemeinplatz nimmt Žižek schon mit - wie übrigens gleichfalls jener Giordano. So dürfen die Großgedankenhaber einstweilen Prosecco auf der Dachterrasse schlürfen. Es wäre nur schön, wenn sie irgendwann herunterkämen. Denn politisch ernst wird’s nicht erst »nach Corona«.

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