Redakteursrisiko

Personalie

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 2 Min.

»Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen.« Einmal mehr darf sich Romantik-Schriftsteller Wilhelm Hauff (1802 bis 1827) bestätigt fühlen: James Bennet, Chef der Meinungsseite der »New York Times« und damit einer der wichtigsten Posten im US-Journalismus, verlässt fristlos sein Amt. Anlass für den Sturz des 54-Jährigen aus Boston war ein Gastkommentar des republikanischen Senators Tom Cotton in der »Times« vom vorigen Mittwoch. Im Beitrag unter dem Titel »Schickt die Truppen!« hatte der Irakkriegs-Veteran und Trump-Hardliner aus Arkansas den Einsatz von Militär gegen die Massenproteste seit dem Tod George Floyds gefordert.

Bennet, seit 2016 Meinungschef der »Times« und als möglicher Chefredakteur gehandelt, rechtfertigte anfangs die Veröffentlichung, obwohl sie in Leserschaft wie Redaktion beispiellose Proteste auslöste. »Es würde die Integrität und Unabhängigkeit der ›New York Times‹ beeinträchtigen, würden wir nur Ansichten veröffentlichen, mit denen Redakteure wie ich übereinstimmen«, schrieb er. Doch als über 800 Mitarbeiter eine - ebenso beispiellose - Protesterklärung veröffentlichten und im Haus eine Krisensitzung die nächste jagte, bekannte Bennet vor Ressortleitern, Cottons Text vor der Publikation nicht gelesen zu haben.

Am Sonntag zog Verleger Arthur Sulzberger den Schlussstrich. Der Belegschaft teilte er Bennets Abgang mit und schrieb, die Zeitung habe »einen schwerwiegenden Zusammenbruch unseres redaktionellen Prozesses erlebt«. Eine Note des Chefredakteurs erwähnte »faktische Mängel« sowie »unnötig harschen Ton« in Cottons Kommentar. »Der Beitrag blieb hinter unseren Standards zurück und hätte nicht erscheinen dürfen.« Die Nachricht von Bennets Rücktritt führte zu einem Tweet Trumps. Der Redakteur habe »wegen des exzellenten Beitrags unseres großen Senators @TomCottonAR hingeschmissen«, schrieb der vielfach überführte Lügenpräsident und wiederholte: »New York Times ist Lügenpresse.«

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