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»Wir müssen die Hürden für Arbeitsmigration senken«

Herbert Brücker, Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, über Einwanderung in eine reiche, aber alternde Bundesrepublik

  • Ulrike Baureithel
  • Lesedauer: 14 Min.

Herr Brücker, unter dem Eindruck der Corona-Krise hatten der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl und andere vorgeschlagen, die Arbeitsbeschränkungen für Asylbewerber aufzuheben und sie als Arbeitskräfte bei der Ernte einzusetzen. Was halten Sie davon?

Die Idee ist ein bisschen lebensfremd, denn Asylbewerber dürfen grundsätzlich ohnehin drei Monate nach Zuzug in Deutschland arbeiten, auch wenn sie noch im Verfahren sind. Es würde sich deshalb, auch weil die Zuzugszahlen stark gesunken sind, nur um einige tausend Personen handeln. Angesichts der 1,8 Millionen Schutzsuchenden, die in Deutschland leben, ist das eine zu vernachlässigende Zahl, die den Agrarsektor kaum entlasten würde. Grundsätzlich wäre es aber sinnvoll, die Arbeitsbeschränkungen aufzuheben, so dass Menschen möglichst schnell nach ihrer Ankunft eine Beschäftigung aufnehmen können.

Langfristig ist es nicht Corona, sondern sind es die demografischen Veränderungen, die uns über Arbeitsmigration reden lassen. Die Zahlen sind aber sehr widersprüchlich: In den nuller Jahren wurden noch über 500.000 Menschen veranschlagt, die Bertelsmann-Stiftung prognostizierte 2019 260.000, Sie sprechen von mindestens 400.000. Können Sie dieses Zahlengewirr aufklären?

Unstrittig ist, dass die Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland ohne Migration stark zurückgehen würde, weil im internationalen Vergleich die Geburtenraten gering sind und das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen deutlich steigen wird. Der kritische Faktor in allen Szenarien ist die Migration. Wenn wir rein hypothetisch davon ausgehen, dass es gar keine Wanderungsbewegung mehr gäbe, sänke das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis zum Jahr 2060 um rund 40 Prozent. Dabei sind eine steigende Frauenerwerbstätigkeit und die Rente mit 67 bereits berücksichtigt. Wenn wir diesen Rückgang auf 20 Prozent halbieren wollten, bräuchten wir eine Nettozuwanderung von 200.000 Personen pro Jahr.

Aber netto ist eben nicht gleich brutto?

Stimmt. Wenn wir das Erwerbspersonenpotenzial konstant halten wollten, müsste das Wanderungssaldo 400.000 Personen pro Jahr betragen, vor zehn Jahren waren das noch 500.000 Personen. Durch die starke Einwanderung relativ junger Menschen seit 2010 und unter Berücksichtigung ihrer Geburtenrate ist die Zahl um 100.000 Personen gesunken. Bei den von der Bertelsmann-Studie genannten 260.000 Personen geht es ausschließlich um Arbeitskräfte. Aber nicht jeder Einwanderer steht sofort oder generell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, so dass diese 260.000 Arbeitskräfte einer Nettozuwanderung von 400.000 Personen entsprechen. Schließlich muss man wiederum zwischen Netto- und Bruttoeinwanderung unterscheiden, denn viele Menschen wandern auch wieder ab, das heißt, wir brauchen 800.000 Zuzüge, um eine Nettoeinwanderung von 400.000 Personen zu erreichen. Doch selbst wenn wir durch Einwanderung das Niveau der Erwerbspersonen konstant hielten, stiege der Altersquotient in Deutschland aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer noch um 15 bis 20 Prozent. Wollten wir die negativen Effekte des demografischen Wandels völlig aufheben, bräuchten wir also eine noch höhere Einwanderung.

Klingt nicht optimistisch. Ist Arbeitskräftebedarf überhaupt voraussagbar und planbar?

Nein. Man muss zwischen den demografischen Szenarien und der Arbeitskräftenachfrage in der Volkswirtschaft unterscheiden. Die demografischen Szenarien lassen sich recht genau berechnen, auch bei der Erwerbsneigung sind unsere Prognosen recht zuverlässig. Diese Informationen sind wichtig für die sozialen Sicherungssysteme und die öffentlichen Haushalte, sagen uns aber noch nichts über den Arbeitskräftebedarf oder die Arbeitsnachfrage. Volkswirtschaften sind dynamische Systeme, die sich über die Kapital- und Gütermärkte an Veränderungen des Arbeitsangebotes anpassen. Würde das Arbeitsangebot um 20 Prozent bis zum Jahr 2020 sinken – das wäre zu erwarten, wenn wir die historischen Trends fortschreiben –, dann würden auch die Investitionen sinken, Kapital und Produktionskapazitäten in das Ausland verlagert werden. Dies würde wiederum die Arbeitsnachfrage verringern. Kurz: Auch bei einem sinkenden Arbeitsangebot kann es weiter Arbeitslosigkeit geben. Das hängt von vielen konjunkturellen und strukturellen Faktoren ab, die sich nicht prognostizieren lassen. Was wir aber mit Gewissheit sagen können: Der Rückgang des Arbeitsangebots bei einer steigenden Zahl von Personen im Rentenalter wird zu erheblichen Finanzierungsproblemen der sozialen Sicherungssysteme und den entsprechenden Verteilungsproblemen führen.

Aber ist das notwendig negativ, vorausgesetzt, dass die technologisch induzierte Produktivität steigt?

Das Produktivitätsargument halte ich nicht für überzeugend. Wenn wir annehmen, dass das Produktivitätswachstum konstant bleibt, was zu wünschen wäre, dann würde ein sinkendes Erwerbspersonenpotenzial bedeuten, dass die älteren Generationen künftig weniger am Produktivitätsfortschritt teilhaben können. Ich fürchte aber, dass das Produktivitätswachstum zurückgeht, weil der Anteil der Dienstleistungssektoren, in denen das Produktivitätswachstum geringer als im verarbeitenden Gewerbe ist, zunimmt. Das wird durch die steigende Lebenserwartung unterstützt: Die Produktivitätssteigerungspotenziale etwa im Pflegebereich sind überschaubar. Die Vorstellung, dass wir in vierzig Jahren die Produktivitätssteigerungen für die Versorgung eines immer größeren Teils der Bevölkerung im Rentenalter verwenden werden, aber das Einkommen pro Kopf gleich bleibt oder schrumpft, ist kein schönes Szenario. Deshalb sollten wir versuchen, den demografischen Wandel durch Einwanderung wenigstens abzumildern.

Es gibt sehr unterschiedliche Gruppen von Arbeitsmigranten. Bis vor Kurzem waren die aus dem EU-Ausland noch sehr beliebt, weil sie als besonders gut integrierbar gelten. Das Reservoir gilt als weitgehend ausgeschöpft. Rechnen Sie durch den Brexit mit neuen Wanderungsbewegungen?

Nein. Bereits nach dem Referendum ist die Einwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten nach Großbritannien eingebrochen. Der Brexit wurde bereits eingepreist. Auch die künftigen Umlenkungsprozesse sind überschaubar, wir rechnen mit rund 30.000 Personen. Es wird zwar keine neue Einwanderung nach Großbritannien aus der EU geben, aber die dort lebenden EU-Migranten werden wohl weiter auf der Insel bleiben, sodass hier keine dramatischen Bewegungen zu erwarten sind.

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Aber auch der Zuzug von Arbeitsmigranten aus der EU nach Deutschland wird sinken.
Ja. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Pro-Kopf-Einkommen in den neuen Mitgliedsstaaten steigen, zum anderen damit, dass die Potenziale in diesen Ländern, also die jungen und wanderungswilligen Menschen, weitgehend ausgeschöpft sind. In den Transformationsländern beobachten wir außerdem stark fallende Geburtenraten. Wir rechnen mit einer Halbierung der Anzahl von Menschen, die in den nächsten zehn Jahren aus EU-Ländern zuwandern.

Das heißt, Deutschland ist auf den Zuzug immer heterogenerer Gruppen aus Drittstaaten angewiesen?

Das stimmt. Die Transport- und Kommunikationskosten sinken, so dass immer mehr Menschen aus immer weiter entfernten Regionen dieser Welt zu uns wandern. Die Migration nach Deutschland wird immer weniger durch einzelne Länder dominiert, vielmehr durch immer mehr Herkunftsländer und -regionen. Was mir Sorge macht, ist, dass nur ein sehr kleiner Teil der Einwanderer aus Drittstaaten als Arbeitsmigranten zu uns kommen. Um das zu verdeutlichen: Mit einem Visum oder Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken sind nach den vorliegenden Zahlen für 2018 brutto 62.000 Menschen nach Deutschland gekommen, das entsprach 12 Prozent der Gesamteinwanderung aus Drittstaaten. Zwei Drittel dieser Menschen sind über die Kanäle für qualifizierte Erwerbsmigration nach Deutschland zugezogen, bei einem Drittel ist das nicht der Fall. Grundsätzlich gilt: Wer über ein Visum oder einen Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken zu uns kommt, das gilt auch für Kanäle ohne Qualifikationsanforderungen, integriert sich gut in den Arbeitsmarkt.

Und die Übrigen?

Die meisten Menschen aus Drittstaaten kommen über den Familiennachzug und aus humanitären Gründen zu uns. Außerdem gibt es einen steigenden Anteil von Bildungsmigranten. Mit Ausnahme der Bildungsmigranten, also Studierende, Schüler und Auszubildende, verläuft bei den anderen Gruppen die Arbeitsmarktintegration vergleichsweise ungünstig. Das heißt nicht, dass wir diese Zugänge nicht brauchen – Asylmigration beispielsweise folgt primär humanitären, nicht ökonomischen Zielen. Aber wir müssen, gerade vor dem Hintergrund der sinkenden Migration aus der EU, die Hürden für die Arbeitsmigration im wohlverstandenen Eigeninteresse senken.

Gleichzeitig stoßen diese Gruppen aber auf erhebliche Integrationshemmnisse?

Die Schutzsuchenden sind tatsächlich benachteiligt durch gesundheitliche und andere Beeinträchtigungen durch Krieg, Verfolgung und die Risiken der Fluchtmigration, institutionelle Gründe wie Beschäftigungsverbote zu Beginn der Asylverfahren und die Rechtsunsicherheit, die häufig mit dem ungewissen Aufenthaltsstatus verbunden ist. Wohnsitzauflagen, die mit Such- und Informationskosten verbunden sind, kommen hinzu. Darüber hinaus verfügt nur ein verschwindend geringer Teil der Schutzsuchenden beim Zuzug über deutsche Sprachkenntnisse, und die in den Heimatländern erworbenen Qualifikationen passen häufig schlecht zu den Anforderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Im Durchschnitt dauert es 10 bis 15 Jahre, bis Geflüchtete zu anderen Migrantengruppen aufschließen. Ähnliches, wenn auch nicht ganz so gravierend, gilt auch für Personen, die über den Familiennachzug nach Deutschland kommen.

Welche Rolle spielen die unterschiedlichen Zugänge für die Arbeitsintegration?

Wir müssen zwischen den rechtlichen Zugangswegen, etwa über das Aufenthaltsrecht, und den tatsächlichen Zugängen in den Arbeitsmarkt unterscheiden. Das Recht bietet nur einen Rahmen, der von der Ökonomie und den dort handelnden Personen gefüllt werden muss. Dabei spielen Netzwerke eine zentrale Rolle. Die Hälfte der Migranten findet ihre Jobs über persönliche Netzwerke, davon die Hälfte in der eigenen Community, die anderen über persönliche Beziehungen zu Deutschen. Dies ist weit bedeutender als die Arbeitsvermittlung über das Internet oder Institutionen wie die Bundesagentur für Arbeit. Interessanterweise sind die Einstiegslöhne, wie wir kürzlich nachweisen konnten, deutlich höher, wenn Jobs über persönliche Netzwerke gefunden werden, als auf anderem Wege. Das gilt auch für die Beschäftigungsstabilität. Wir beobachten aber auch, dass das Lohnwachstum, ein Indikator für den Aufstieg im Arbeitsmarkt, dann etwas geringer ausfällt.

Es kommen erheblich mehr Männer als Frauen nach Deutschland. Frauen gelten aber als besonders benachteiligt, stimmt das?

Es kommen etwa genauso viele Frauen wie Männer nach Deutschland, wenn wir von der mit besonderen Risiken behafteten Fluchtmigration absehen. Richtig ist, dass wir ein Gender-Gefälle in den Beschäftigungschancen und Löhnen beobachten, das bei Migrantinnen und Migranten stärker ausgeprägt ist als im Rest der Bevölkerung. Dieses Gefälle zeigt sich besonders stark unter den Schutzsuchenden. Das hängt vor allem mit dem Alter und mit der Anzahl der Kinder zusammen.

Und mit einer geringeren Bereitschaft, an Integrationsmaßnahmen teilzunehmen?

Anfangs haben wir tatsächlich beobachtet, dass geflüchtete Frauen weniger an etwa den Integrationskursen des Bamf teilgenommen haben. Diese Lücke scheint sich inzwischen zu schließen. Im zweiten Halbjahr 2018 haben bereits mehr Frauen als Männer an Sprachkursen teilgenommen, das erklärt möglicherweise auch ihren verzögerten Zugang zum Arbeitsmarkt. Das Bildungsgefälle zwischen geflüchteten Männern und Frauen war in den Heimatländern nicht sehr hoch, am oberen Ende, bei den Hochschulabschlüssen, sind Frauen ebenso gut repräsentiert wie Männer, am unteren Ende allerdings etwas stärker. In Deutschland besuchen sie jedoch deutlich weniger als Männer Bildungseinrichtungen. Insgesamt beobachten wir eine Kumulation der Benachteiligung von Frauen, die sich dann am Ende in der sehr viel geringeren Arbeitsmarktbeteiligung niederschlägt. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass nur 37 Prozent der geflüchteten Frauen, aber 70 Prozent der geflüchteten Männer bereits vor dem Zuzug über Berufserfahrungen verfügten.

Gibt es Unterschiede in den Wertvorstellungen?

Das muss sehr differenziert betrachtet werden. Auf der einen Seite beobachten wir bei dem, was die Sozialforschung »Familienwerte« nennt, also Einstellungen zur Sexualität vor der Ehe, Ehescheidungen, Abtreibung und Homosexualität, bei der Mehrheit der Geflüchteten recht konservative Vorstellungen. Auf der anderen Seite ist die große Mehrheit der geflüchteten Frauen und Männer davon überzeugt, dass die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit von Frauen und ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit sehr wichtig sind. Sie betrachten es auch nicht als Problem, wenn eine Frau mehr verdient als ihr Partner. Auch lehnen sie die Bevorzugung von Söhnen gegenüber Töchtern in Bildung und Ausbildung ab.

Vielfach wird kritisiert, dass wir gezielt Fachkräfte und hochqualifizierte Beschäftigte in Ländern abwerben, in denen sie dann fehlen, der berühmte Brain-Drain. Sehen Sie die Entwicklung ähnlich kritisch?

Nein. Da hat sich die Forschung seit dem berühmten Artikel von Jagdish Bhagwati aus den 1970er Jahren weiterentwickelt. Persönliche Bildungsentscheidungen werden unter Berücksichtigung der Bildungsrenditen getroffen, und Migration erhöht die Bildungsrenditen, weil qualifizierte Arbeitskräfte im Ausland sehr viel mehr verdienen können. Deshalb führt die Migrationsoption dazu, dass in den Herkunftsländern mehr Menschen in Bildung investieren. Aber nicht alle, die zusätzlich in Bildung investiert haben, verlassen später tatsächlich auch ihr Heimatland. Andere kehren wieder zurück. Darum ist das Ergebnis ambivalent: Die empirischen Befunde der Forschung zeigen, dass in der Regel die ärmsten Länder der Welt, vor allem kleine Inselstaaten und einige Länder südlich der Sahara, verlieren. Länder dagegen, die den Hauptteil der Migration ausmachen, die Schwellenländer oder auch die neuen Mitgliedsstaaten der EU, profitieren. So sind in unseren Nachbarstaaten wie Polen und Ungarn die Anteile der Hochschulabsolventen in vielen Fällen mehr als doppelt so hoch wie zu Beginn des Transformationsprozesses und deutlich höher als vor ihrem Beitritt zur EU. Schlechter sieht es dagegen in Bulgarien und Rumänien aus.

Und wie beurteilen Sie eine Initiative wie die von Gesundheitsminister Spahn, der überall in der Welt Pflegekräfte abwirbt?

Weltweit haben wir eine hohe Nachfrage nach Ärzten und Pflegekräften. Wenn man gezielt Arbeitskräfte aus diesen sensiblen Sektoren abwirbt, kann das in den Herkunftsländern zu erheblichen Engpässen führen. In Ländern dagegen, in denen über den eigenen Bedarf Pflegekräfte ausgebildet werden, wie zum Beispiel in den Philippinen und Mexiko, ist der Effekt möglicherweise wieder positiv, weil die Menschen, die hier arbeiten, einen Teil ihrer Löhne in diese Länder transferieren.

Es werden ja immer wieder Grenznutzenrechnungen angestellt: Was bringen Arbeitsmigranten der Volkswirtschaft, inwieweit belasten sie Staat und Sozialkassen. Wohin schlägt das Pendel?

Grundsätzlich gilt: Je besser die Arbeitsmarktintegration, das heißt je höher die Erwerbstätigenquoten, desto günstiger fallen die fiskalischen Effekte aus. Aber es ist nicht so, dass die Beschäftigungsquoten oder die Verdienste höher als in der deutschen Bevölkerung sein müssen, damit wir durch Migration fiskalisch gewinnen. Migration erhöht auch die Einkommen, etwa der Unternehmen und anderer Arbeitskräfte, und Arbeitsmigranten zahlen auch Steuern und Sozialabgaben. Wichtig sind aber vor allem die Altersstruktur und die Aufenthaltsdauer: Die meisten Arbeitsmigranten kommen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren nach Deutschland, haben ihre Bildung also weitgehend abgeschlossen. Diese Investitionen wurden vollständig oder überwiegend von den Herkunftsländern getragen. Auch kehren viele Menschen vor dem Rentenalter wieder in ihre Heimatländer zurück, so dass die altersbezogenen Kosten für die Gesundheitsversorgung, Pflege usw. fallen. Das bedeutet, dass viele Migranten genau dann in Deutschland leben, wenn sie eine aus der Sicht des Sozialstaats günstige Altersstruktur haben. Deshalb können wir auch dann profitieren, wenn sie häufiger als Deutsche arbeitslos sind oder Leistungen der Grundsicherung beziehen.

Sie haben in einem Interview gesagt, dass 2060 jeder Dritte in Deutschland einen Migrationshintergrund haben wird. Gibt es eigentlich eine kritische Masse für Arbeitsmigration?

Ich glaube nicht. Schon heute hat ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, 16 Prozent sind im Ausland geboren, weitere 10 Prozent sind Nachkommen von Migranten. Dieser Anteil wird, wenn wir nur von Nettomigration von 200.000 Menschen pro Jahr ausgehen, innerhalb der nächsten 20 Jahre auf ein Drittel steigen, bei einer größeren Migration bis auf 40 Prozent. Das ist, verglichen mit anderen Einwanderungsländern, nicht außergewöhnlich und auch nicht zwangsläufig mit großen Konflikten verbunden. Man kann auch eine ausgeprägte nationale Identität mit hoher Diversität verbinden, wie etwa das kanadische Motto »Einheit in Vielfalt« zeigt. Migration und gesellschaftlicher Zusammenhalt müssen sich keineswegs widersprechen. Oft übersehen wir, dass in Großstädten, in denen sehr viele Migranten leben und auch künftig leben werden, nicht die Einwanderer die Menschen deutscher Herkunft dominieren werden. Diese werden vielleicht nicht mehr die Mehrheit in den Großstädten stellen, aber als mit Abstand größte Gruppe immer noch viel relevanter als jede andere Herkunftsgruppe sein. 1990 kamen 60 bis 65 Prozent der Migranten noch aus drei Ländern, dieser Anteil ist auf 29 Prozent gefallen. Das heißt, es wird nicht mehr eine Gruppe, eine Kultur, eine Religion unter den Migranten dominieren. So hat zum Beispiel nur ein Drittel der Migranten eine islamische Religionszugehörigkeit, sehr viel mehr eine christliche oder sie sind konfessionslos. Zudem steigt die Vielfältigkeit durch Ehen, andere Paarbeziehungen und Freundschaften. Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten werden darum künftig immer weniger durch ethnische Zugehörigkeiten und immer mehr durch kulturelle und andere Orientierungen begründet werden.

Andersrum gefragt: Glauben Sie, dass Deutschland 2060 überhaupt noch ein attraktives Einwanderungsland sein wird?

Ja, davon gehe ich aus. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde, und wenn man nicht allzu viel falsch macht, wird es das bleiben, daran wird auch Corona nichts ändern. Gerade die demografische Entwicklung, die Kombination von Reichtum und alternder Bevölkerung, schafft starke Wanderungsanreize.

Prof. Dr. Herbert Brücker ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt Universität. Er leitet dort die Abteilung »Ökonomische Migrations- und Integrationsforschung«.

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