Wenn Nationen ehrlich makeln

Deutschland gibt sich im EU-Rat als »interesseloser Vermittler«. Dabei bleiben die nationalen Strukturen des Rates unangetastet - ebenso wie die sozialen Konflikte

  • Erik Brandes und Sören Brandes
  • Lesedauer: 6 Min.

Von Otto von Bismarck stammt die in der deutschen Außenpolitik bis heute beliebte Selbstdarstellung des »ehrlichen Maklers«: Deutschland als Vermittler, der Streitende zusammenbringt und Verhandlungen zum Erfolg führt, ohne selbst Partei zu ergreifen. Die Funktion des »ehrlichen Maklers« ist im heutigen EU-Gefüge auch für den halbjährlich rotierenden Vorsitz des Rats der Europäischen Union vorgesehen. Den symbolisch bedeutungsvollen Ratsvorsitz hat am 1. Juli 2020 die deutsche Bundesregierung übernommen. Laut Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) will Deutschland in diesen sechs Monaten, in denen unter anderem der Corona-Wiederaufbaufonds und der mehrjährige Finanzrahmen verhandelt werden, »Motor und Moderator« sein, »Brücken bauen und Lösungen finden« - ehrlich makeln also.

Nun könnte man fragen, ob die deutsche Bundesregierung sich für die Rolle des ehrlichen Maklers eignet. Schließlich versuchen Angela Merkels verschiedene Regierungen seit einem Jahrzehnt jede progressive Europa-Idee auszubremsen: von der Verhinderung wirklicher Solidarität in der Eurokrise über die Demontage ökologischer Politiken wie der CO2-Begrenzung bei Pkw bis hin zur Blockade demokratischer Reformen wie transnationaler Wahllisten oder einer Stärkung des Europäischen Parlaments. Überhaupt bietet die jüngere Geschichte wenig Anlass für eine Deutung Deutschlands als interesseloser Vermittler - man denke nur an Gerhard Schröders Alleingang beim Nord-Stream-Projekt. Schon Bismarcks enger Berater Gerson von Bleichröder hatte mit Blick auf dessen verklärende Selbstbeschreibung bemerkt: »einen ehrlichen Makler gibt es nicht.« Und wenn es ihn gäbe, wäre er sicherlich kein ostelbischer Junker, der Zeit seines Lebens den Machtansprüchen des preußischen Landadels diente.

Mit diesen Anmerkungen denken wir aber am Kern des Problems vorbei. Die Frage ist nicht, ob die deutsche Regierung Interessen durchsetzt oder zwischen Interessen vermittelt. Nicht, ob Deutschland als Hegemon oder ehrlicher Makler auftritt. In der Politik geht es immer um Interessen. Die eigentliche Frage lautet deshalb: Wessen Interessen werden hier durchgesetzt? Als wessen Makler tritt die Bundesregierung auf, wenn ihre Minister*innen im Rat den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten gegenüber treten? Und wie steht es um deren Regierungen?

Mitbestimmung der Bürger ...

Die Institution des Rats selbst verkörpert das eigentliche Strukturproblem der Europäischen Union. Dort verhandeln die Regierungen der Mitgliedstaaten miteinander und verabschieden EU-Gesetze. Die Ratsmitglieder geben dabei vor, die jeweils »nationalen Interessen« zu vertreten - aber was soll das sein? Die Idee eines nationalen Interesses basiert auf der Fiktion, dass die deutsche Milliardärin Susanne Klatten und, sagen wir, eine Pflegerin in einem deutschen Altenheim ein gemeinsames Interesse haben, nur weil beide vielleicht Deutsche sind. Aber worin soll dieses gemeinsame Interesse bestehen? Hat die Altenpflegerin nicht mehr gemeinsame Interessen mit ihren vielleicht bulgarischen oder polnischen Kolleg*innen, weil diese vom selben Altenheimträger ausgebeutet werden?

Diese eigentlich zentralen Fragen politischer Ökonomie werden durch die Struktur der heutigen EU beständig ausgeblendet. Wo immer sich der Rat der Minister*innen oder sein großer Bruder, der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, treffen, nach den intransparenten Verhandlungen folgen bekannte Szenen: Regierungsvertreter treten vor die Kameras, um vor Medien, die mit derselben nationalen Brille hantieren, ihre angeblichen Verhandlungserfolge für ihren jeweiligen Nationalstaat darzustellen. Aber im Angesicht der Tatsache, dass 19 von 27 Ländern derzeit von konservativen (zwölf) oder liberalen (sieben) Regierungen geführt werden, sind »nationale Interessen« meist nichts anderes als ein Codewort für die Interessen der mächtigen Industrien und Konzerne dieser Länder. Da der Rat in manchen Schlüsselbereichen, wie der Steuerpolitik, alleiniger Gesetzgeber ist, erklärt sich hieraus ein großer Teil dessen, was von links häufig als »neoliberales Europa« wahrgenommen wird. Was die EU neoliberal macht, ist deshalb letztlich die in ihren institutionellen Aufbau eingeschriebene Macht des nationalen Prinzips.

Die rechte Hegemonie im Rat wiederum hat sehr viel damit zu tun, dass konservative Parteien bei Wahlen von dem so gesetzten nationalen Frame profitieren: Es ist geradezu das politische Prinzip konservativer Parteien, mit dem Konstruieren und Betonen angeblicher kultureller Traditionen und nationaler Unterschiede von sozialen Konflikten über die Verteilung des Wohlstands abzulenken. Unter den Bedingungen globaler kapitalistischer Konkurrenz ist der nationale Diskursframe ein hervorragendes Vehikel nationalkonservativer Politik: Mithilfe paternalistischer Staatsvorstellungen können sich konservative Politiker*innen zu »Beschützern« nationaler »Völker« aufspielen. Die ständig wiederholte Ideologie eines nationalen Interesses führt dazu, dass viele Menschen in Deutschland glauben, Angela Merkel vertrete ihre Interessen, nur weil sie in Deutschland leben und Merkel »ihre« Kanzlerin sei. Aus dieser strukturellen Konstellation erklären sich zu nicht geringen Teilen die Wahlerfolge nationalistisch-autoritärer Parteien in vielen europäischen Ländern.

... statt »nationale« Interessen

So hat der durch die Struktur der EU reproduzierte nationale Rahmen, politökonomisch gesehen, gleichzeitig eine Ablenkungs- und eine Spaltungswirkung: Er lenkt von Klassenkonflikten innerhalb von Nationalstaaten ab und trägt dazu bei, dass diese unter nationalen Vorzeichen diskutiert werden, nicht selten mit rassistischen Elementen. Als der Fall Tönnies bekannt wurde, war der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) etwa schnell dabei zu behaupten, dass die Infektionswelle von einreisenden »Rumänen und Bulgaren« ausgelöst worden sei - statt die katastrophalen Arbeits- und Wohnbedingungen des Schlachtbetriebs in seinem Bundesland zu thematisieren. So werden die europäischen Arbeiter*innen fein säuberlich in ihre Nationalitäten aufgespalten und in fiktive Konflikte miteinander gebracht - »faule Griechen« gegen »strenge Deutsche«, statt ausbeuterische Großkonzerne und unverantwortliche Finanzmärkte gegen arbeitende Menschen überall in Europa.

Mit dieser Analyse wird deutlich, warum jede EU-Kritik, die eine Rückkehr in den Nationalstaat fordert, egal ob von rechts oder links, in die Irre führt. Das Problem der EU ist gerade, dass nationale Strukturen in ihr zu mächtig sind und dadurch die eigentlichen politischen und sozialen Konflikte Europas verdecken. Gerade diese Konflikte aber haben sich in den letzten Jahrzehnten zu existenziellen Krisen verdichtet und werden sich weiter verschärfen. Jede linke Gegenstrategie muss die Gemeinsamkeit sozialer und ökonomischer Kämpfe über Grenzen hinweg betonen und aktiv und strategisch Beziehungen in andere Länder aufbauen und pflegen, etwa entlang transnationaler Lieferketten und standortübergreifend innerhalb von Großunternehmen.

Ob Deutschland oder ein anderes Land den Ratsvorsitz innehat, ist für diese langfristige Strategie des Machtaufbaus von unten nicht entscheidend. Im Gegenteil ist der halbjährlich wechselnde Ratsvorsitz eine Gelegenheit für die Regierungen, der Diskussion um die EU einen nationalen Rahmen aufzusetzen, und für heimische Konzerne, ihr Profitstreben als »nationale Interessen« zu verkleiden. Thinktanks und außenpolitische »Expert*innen« werden die anstehenden Verhandlungen im Rat zum Wiederaufbaufonds und zum mehrjährigen Finanzrahmen mit Blick auf nationale Verhandlungserfolge interpretieren. Langfristig wird es darauf ankommen, diese Struktur aufzubrechen. Die Bürger*innen Europas brauchen keinen »ehrlichen Makler«. Sie brauchen echte Macht zur Mitbestimmung.

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