Schief in die Welt gestellt

Die Netflix-Serie »I am not okay with this« ist emotional unmittelbar durchschlagendes Pop-Adoleszenz-Fernsehen. Von Benjamin Moldenhauer

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Träume der Jugend - früh muss der junge Mensch erkennen, dass er sie zu einem guten Teil nicht wird verwirklichen können. Lieben, wen man will, frei sein dürfen, auch frei von Angst, und wenn nötig den Kopf des schlimmsten Feindes explodieren lassen: Am Ende kann nichts so weit realisiert werden, wie die Musik und die Filme es einem versprochen haben. Stattdessen lässt sich mit zunehmendem Alter immer weniger leugnen, dass das, was die Erwachsenen einem vorgelebt haben, bald auch die eigene Realität sein wird. So wird es enden. Dass der junge Mensch sich gerne in Superheldengeschichten verliert, wer möchte es ihm verdenken?

Die Gewaltästhetik von Comics, Kinobildern und Musik, kurz: von Pop, fungiert oft - auch - als Chiffre für Selbstermächtigung unter dem Eindruck der Beschränkungen, Verbote und meist implizit bleibenden Aufforderungen, wie man zu sein hat. Gerard Jones, Comic-Autor, schreibt in seinem Buch »Kinder brauchen Monster« über Sharon, die in einem seiner Workshops sofort Verbindung mit Lewis aufgenommen hatte, einer Comic-Figur, deren Zorn ihren »Körper formlos werden ließ«: »Die Gewalt hatte in die hermetisch abgeriegelte Gefühlswelt einer Heranwachsenden eine Bresche geschlagen und ihr, wenigstens zeitweise, ein Gefühl von persönlicher Macht nahegebracht.«

Die siebenteilige erste Staffel der Serie »I am not okay with this« weiß um die Verbindung von Gewaltbild, Macht und Selbstermächtigung wie auch um die lebensrettenden Potenziale der Popkultur sehr gut Bescheid. »Wissen« heißt in diesem Fall: Sie schließt mit ausgeprägtem Genrebewusstsein an die großen Außenseiter-High-School-Erzählungen aus mindestens drei Jahrzehnten an, an Stephen Kings »Carrie«, John Hughes’ »Breakfast Club« und an Richard Kellys »Donnie Darko« unter anderem. Und sie schafft es, die Referenzmodelle mittels Anspielung und Zitat aufzurufen und im selben Moment emotional unmittelbar durchschlagendes Pop-Adoleszenz-Fernsehen zu sein.

Das Außenseitertum ist hier ein dezidiert queeres. Sydney Novak (sagenhaft gut: Sophia Lillis), mit Tomboy-Zügen und genderneutralem Final-Girl-Vornamen, ist heimlich verliebt in ihre beste Freundin Dina (Sofia Bryant). Sydneys Vater hat sich umgebracht. Ihr kleiner Bruder bekommt in der Schule von Bullies aufs Maul. Die finanzielle Lage der Familie ist prekär. Die Wände in dem Haus, in dem Sydney mit ihrer Mutter und ihrem Bruder wohnt, haben Risse. Wobei die Risse auftreten, wenn Sydney wütend wird. Dann fangen Dinge an sich zu bewegen, Nasen beginnen zu bluten. Und für Wut hat man als lesbische 17-Jährige in einer US-amerikanischen Kleinstadt Grund genug.

»I am not okay with this« erzählt die Geschichte von der Fähigkeit zur Ausübung von Gegengewalt als Geschichte eines drohenden Kontrollverlusts. Man lernt in der Adoleszenz nicht nur Ängste kennen, von denen man bislang nichts wusste, man bekommt es auch mit Kräften zu tun, von denen man nichts geahnt hat. Wenn Superheldin Sydney, ohne es steuern zu können, Regale umwirft oder ganze Baumreihen ummäht, ist das ein denkbar direktes Bild des affektgesteuerten Widerstands gegen Zumutungen aller Art. Dass es nicht wie eine Befreiung wirkt, sondern das Ganze noch komplizierter werden lässt, ist wiederum Voraussetzung für die Komplexität der Erzählung. Nichts ist einfach, alles kompliziert, insofern der blanke Realismus.

Indem die Serie, getragen von einer jedes Bild durchziehenden Liebe zu ihrer Figur, eine 17-Jährige mit Ängsten, Begehren, Aggressivität, Witz, Widersprüchen und Superkräften ausstattet, gelingt ihr etwas sehr Seltenes, im Quality-TV-Zirkus vielleicht bislang wirklich Ungesehenes: eine Serie nicht über queere Mädchen, sondern für queere Mädchen.

»Eine TV-Serie, in welcher gerade sie der eigentliche Gegenstand sind«, schreibt Peyton Thomas in seinem Text auf pitchfork.com, in dem er die - das nächste große Geschenk von »I am not okay with this« - Überführung von 80er- und 90er-Jahre-Popsongs in den queeren Kontext der Serie rekonstruiert. Weniger abstrakt formuliert: Zwangsheterosexuelle Schönheiten wie Roxettes »It must have been Love« oder »Here Comes Your Man« von den Pixies erstrahlen hier mit einem Mal in einem neuen, sozusagen queeren Licht.

»I am not okay with this« spielt in der Gegenwart. Dass das Tun und Lassen der Figuren von Musik begleitet wird, die überwiegend älter als ein Vierteljahrhundert ist, bringt die Serie in Verbindung mit dem dunkel gefärbten 80er-Jahre-Nostalgie-Kino, das seinen direktesten Ausdruck zuletzt in der Netflix-Serie »Stranger Things« und der zweiteiligen Verfilmung von Stephen Kings »Es« gefunden hat. Geht man an den Beginn dieser kleinen, aber einschlägigen Welle zurück, landet man bei Richard Kellys frühem (und einzigem) Meisterwerk »Donnie Darko«, einem Film, der 2001 das 80er-Jahre-High-School-Setting nicht schlicht als filmischen Raum für Zuschauer*innen-Nostalgie, sondern als Voraussetzung von Gefühlen wie Depression, Angst und Teenager-Suizidalität entfaltete.

Auch der adoleszente Hetero-Außenseiter spielt in »I am not okay with this« eine zentrale Nebenrolle, Stan (Wyatt Oleff), der lustige Sidekick der Heldin. Als Identifikationsfigur braucht es ihn allerdings auch für straighte Zuschauer nicht, auch wenn der Versuch, mit einem charmanten Hetero-Nerd das Zielpublikum zu erweitern, unübersehbar ist. Sydney funktioniert auch als Verbindung zwischen queeren und straighten Zuschauer*innen. Queerpolitik im Zeichen des Universalismus: »I am not okay with this« spricht zu jedem und jeder, die/der den Zwängen der heterosexuellen Matrix nicht nachkommen kann oder will, ganz unmittelbar. Und alle anderen, zumindest die, die wissen, was es heißt und wie es sich anfühlt, wenn man sich wie schief in die Welt gestellt fühlt, dürfen sich mit nur ein wenig Übertragungsleistung mitgemeint fühlen. Das ist schließlich eines der schönsten Versprechen des Kinos: im sicheren Raum für eine Zeit mit jemandem mitfühlen zu dürfen, der/die man selbst nicht ist und auch nicht sein kann - bei gleichzeitigem Wissen darum, dass es bei allen kategorialen Grenzen genug an Ängsten und Wünschen gibt, die man mit der Figur teilt.

»I am not okay with this«, abrufbar via Netflix.

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