Babyfresser aus der Tiefe des Staates

Krude Kindermord-Theorien sind eine uralte Propagandawaffe.

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor den Toren von Tunis liegt ein düsterer Ort. Noch im hellsten Mittagssonnenlicht schwebt über dem verwitterten Stelenfeld jene unheilvolle Atmosphäre, mit der Horrorfilme beginnen. Tophet heißt die hinter einer Mauer verborgene Nekropole, in der Archäologen hunderte Urnen mit Kinderskeletten aus der Zeit Karthagos entdeckten. Lange galten die Funde als Beleg für ein abstoßendes Ritual der Punier: Zu Ehren des Gottes Baal-Hammon soll das antike Seefahrervolk Neugeborene geopfert haben. Was der römische Historiograph Plutarch nüchtern faktisch behauptete, hat Gustave Flauberts Historienroman »Salammbô« (1862) in finster flackernden Sätzen ausgemalt.

Vor einigen Jahren haben Wissenschaftler diese erhaltenen Gebeine erneut forensisch untersucht. Und siehe da: Bei einem Fünftel der Kinder handelt es sich laut Zahnstatus eindeutig um Totgeburten, die für Opferpraktiken gar nicht in Frage gekommen wären. Auch die restlichen Gebeine wiesen keine erkennbaren Spuren von Gewalt auf. Der Tophet war ein gewöhnlicher Kinderfriedhof, keine archaische Blutstätte.

Dass Hannibals Landsleute ihre erstgeborenen Knaben ins Feuer warfen, ist damit zwar nicht letztgültig widerlegt, doch die meisten Forscher halten solche Überlieferungen mittlerweile für eine perfide Rufmordkampagne. Sind es doch ausschließlich lateinische Quellen, die über die grausamen Tribute der Karthager berichteten. Die Autoren wollten Roms Gegner aus den punischen Kriegen durch gezielt gestreute Fake News ins moralisch schlechtmöglichste Licht stellen.

Babyfresser sind immer die anderen - mit dieser Propagandakeule werden seit Jahrtausenden Kämpfe um Meinungs- und Deutungshoheit ausgetragen. Ein PR-Klassiker in diesem Zusammenhang ist die so genannte »Brutkastenlüge« aus dem Zweiten Golfkrieg 1990/91. Irakische Soldaten, lautete damals der Vorwurf, hätten kuwaitische Frühgeborene aus ihren Brutkästen gerissen und sterben lassen. Als Drahtzieher der Medienmanipulation entpuppte sich eine von Kuwait bezahlte Kommunikationsagentur.

Das aktuellste Beispiel für den Versuch, krude Kindermord-Theorien zu verbreiten, ist die wohl in den USA entstandene QAnon-Bewegung. Seit der Pandemie erlebt sie verstärkt Zulauf, jüngst äußerte sich sogar Donald Trump anerkennend: »Ich habe gehört, dass es Leute sind, die unser Land lieben.« Die Anhänger dieser Bewegung, deren Initiatoren bislang anonym operieren, glauben an den »Deep State«, einen Staat im Staate, der jenseits der offiziellen Politik die Fäden zieht. Im Fokus des Unterwanderungsmärchens steht die Annahme, eine korrupte Elite entführe Kinder, um sie in geheimen Gefängnissen zu quälen beziehungsweise ihnen sexuell Gewalt anzutun.

Später hat die Online-Sekte ihren Ursprungsmythos noch um einen Punkt erweitert: Demnach tötet man die Kinder, weil sich aus ihrem Blut oder aus ihren Drüsen das vermeintliche Verjüngungsmittel Adrenochrom (ein Stoffwechselprodukt des Stresshormons Adrenalin) gewinnen lasse. Als dessen Konsumenten werden unter anderem Bill Gates, Hillary Clinton und der aktuelle Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, vermutet. Ein auf Kosten der Jüngsten gewonnenes Jugendelixier für mächtige alte Männer und Frauen - das vampiristische Kolportage-Konstrukt erneuert unter Bedingungen der modernen Biowissenschaft eine jahrhundertealte Legende von rituellen Kindstötungen.

In seiner mittelalterlichen Variante hat dieses Phantasma den Antisemitismus befeuert. 1144 kam im englischen Norwich ein Junge unter ungeklärten Umständen ums Leben. Aufgebrachte Christen beschuldigten jüdische Nachbarn, ihn zu Tode gefoltert zu haben. Das Gerücht wuchs sich zur Verschwörungstheorie aus. Bald galten Juden in ganz Europa als Satanisten, die für jedes ermordete oder vermisste Kind verantwortlich gemacht wurden. Meist hieß es, die Opfer würden zur Verhöhnung Christi gekreuzigt und ihr Blut getrunken, um daraus magische Kraft zu schöpfen.

Auch die Verschwörungsideologen des 21. Jahrhunderts führen gern ungelöste Kriminalfälle zur Bestätigung ihrer Thesen an. Sido zum Beispiel: In einem Interview spekulierte der Deutschrapper über die in Portugal vermisste Madeleine McCann. »Sehr reiche, sehr mächtige« Leute steckten angeblich dahinter. Gewiss nicht zufällig nannte Sido in dem Gespräch den Namen der Rothschilds, einer traditionsreichen jüdischen Bankiersfamilie aus Frankfurt am Main.

Dabei erhoben sich schon im Mittelalter kritische Stimmen gegen das antijüdische Blutopfer-Geschwurbel. Stauferkaiser Friedrich II. etwa, der vielleicht aufgeklärteste Monarch seiner Epoche, setzte eine Kommission ein, die die Absurdität des Ganzen mit einem ebenso einfachen wie unschlagbaren Argument offenlegte: Der Genuss von Blut wird im Alten Testament streng untersagt. Sogar kurz gebratene Steaks, aus denen noch Saft austritt, gelten im Judentum als nicht koscher.

Doch Progrome wurden mit solchen Informationen nicht verhindert. Ebenso wenig lassen sich heutige QAnon-Parteigänger von der Tatsache beeindrucken, dass keine seriöse Studie einen Anti-Aging-Effekt von Adrenochrom nahelegt.

Warum verfangen grobmaschig gestrickte Lügenerzählungen trotzdem immer wieder? Dass die sozialen Netzwerke konspirative Hirngespinste aller Art besonders leicht in Umlauf bringen, beobachten Medienwissenschaftler seit Längerem. Doch nichts mobilisiert den Volkszorn schneller als die Tötung der Kleinsten. Schon einer der ersten deutschsprachigen Tonfilme, Fritz Langs »M«, führte 1931 vor, welche Eigendynamik die Jagd nach einem Kindsmörder annimmt.

Genau deshalb lässt sich die verständliche Empörung über Pädophilie und Gewalt gegen Wehrlose so leicht für die Hetze gegen ganz andere Adressaten missbrauchen. Xavier Naidoo, der heute ebenfalls QAnon-Inhalte teilt, nutzte das Kindermord-Narrativ bereits 2012 für einen schwulenfeindlichen Song. »Ihr tötet Kinder und Föten und ich zerquetsch euch die Klöten«, drohte der Mannheimer Soulstar gemeinsam mit dem Berliner Rapper Kool Savas auf einem titellosen Zusatztrack des Albums »Gespaltene Persönlichkeit«.

Das schaurige Abschlachten von Säuglingen ist das schwerste und älteste Kollektivtrauma westlicher Zivilisationen. Der (historisch fragwürdige) Kindermord von Bethlehem aus der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums hat es tief ins kulturelle Unterbewusstsein gebrannt. Künstlerische Darstellungen der Bibelepisode und ihre Echos in Literatur und Film halten die Erinnerung daran wach. Noch in »Game of Thrones«, einer der erfolgreichsten Serien überhaupt, befiehlt der böse Jungkönig Joffrey, alle unehelichen Kinder seines zeugungsfreudigen Vorgängers zu töten, um mögliche Thronkonkurrenten zu beseitigen. Dass es sich dabei um Fantasy handelt, tut dem Transfer in die Wirklichkeit keinen Abbruch. Es bestärkt sogar noch das Gefühl der Verschwörungsgläubigen, auf der richtigen Seite zu stehen. Als einsame Helden im Kampf gegen finstere Mächte aus der Tiefe des Staates.

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