»Im Wald gibt es keine Steckdosen«

Wladimir Kaminer hat einen eigenen Sound, ganz wie seine Familie in seinem neuen Buch »Rotkäppchen raucht auf dem Balkon«

  • Olaf Neumann
  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Kaminer, in Ihren neuen Familiengeschichten beschreiben Sie das komplizierte Verhältnis zwischen den Generationen mit viel Humor. Was bedeutet Ihnen Familie?

In erster Linie möchte ich verstehen, wie die Welt des 21 Jahrhunderts aussehen wird, die Welt meiner Kinder, die ja auch schon erwachsene Menschen sind. Deswegen beobachte ich sie. Das ist für mich sehr spannend. Ein anderes Thema des Buches ist, wie die Generation meiner Eltern mit den Veränderungen der Welt klar kommt.

Wladimir Kaminer
Der 1967 in Moskau als Sohn einer Lehrerin und eines Betriebswirt geborene, studierte Toningenieur und Dramaturg, lebt seit 1990 in Berlin und hat bisher 27 Bücher geschrieben; sein Bestseller »Russendisko« wurde 2012 fürs Kino verfilmt. Dieser Tage erschien von ihm »Rotkäppchen raucht auf dem Balkon ... und andere Familiengeschichten« (Goldmann/Wunderraum, 208 S., geb., 20 €). Mit dem Schriftsteller sprach Olaf Neumann.

Ist der Generationsunterschied größer zwischen Ihnen und Ihrer Mutter oder Ihnen und Ihren Kindern?

Es sind komplett verschiedene Menschen - wie von einem anderen Planeten. Man kann sie eigentlich gar nicht miteinander vergleichen. Natürlich produzieren die alten und die neuen Menschen am laufenden Band lustige Geschichten, aber sie benutzen verschiedene Sprachen. Sie können nicht mal zusammen Kaffee trinken, weil meine Mutter Zückli sehr gut findet. Und die Kinder meinen, diese Süßstoffe riechen nach Altersheim.

Welches sind die größten Unterschiede?

Meine Mutter hat als Kind den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Sie ist in großer Armut aufgewachsen. Meine Kinder hingegen sind Kinder des Wohlstandes. Deswegen kritisieren sie die Konsumgesellschaft. Sie sagen, kein Mensch brauche zehn paar Hosen. Meine Mutter meint, man brauche sogar 20 paar Hosen, denn man weiß ja nie, was kommt.

Sind Ihre Kinder das »Produkt« Ihrer Erziehung?

Ich glaube nicht, dass Eltern ihre Kinder sehr stark beeinflussen können. In der Familie wird über das Leben von früher erzählt, die Schule setzt auf Gegenwart und die Straße berichtet von der Zukunft. Die Pläne meiner Kinder für die nächsten Jahre ändern sich im Minutentakt. Manchmal fragen sie mich um Rat und wundern sich, dass ich etwas Gescheites sage.

Versuchen Sie Ihren Kindern Vater und Freund zugleich zu sein?

Freund gefällt mir besser als Vater. Was soll ein Vater leisten außer bedingungslose Liebe und Unterstützung? Freund zu sein ist viel komplizierter, weil man mit ihm streiten können muss.

Worüber streiten Sie mit Ihren Kindern?

Unsere Hauptthemen sind Rassismus, Sexismus und soziale Ungerechtigkeit. Ich möchte mit meinen Kindern meinen eigenen Rassismus und Sexismus zumindest erkennen.

Ihre Tochter Nicole studiert Ethnologie, Philosophie und Gender.

Sie hat inzwischen ihre Bachelorarbeit fertig. Die könnte man sofort als Buch herausgeben. Sie hat gemeinsam mit Kommilitonen über die Erfahrungen geschrieben, welche sie mit der DDR gemacht hat, die für sie eher nur eine Fata Morgana ist. Sie haben sie ausgewählt als eine Grundlage für ihre Traumwelt. Das ist eigentlich total verrückt. Wie die DDR ist vor 30 Jahren auch die Sowjetunion zu Grunde gegangen. Alles Schlechte ist schnell vergessen, und alles Gute wird hoch gehalten.

Was war gut an der Sowjetunion?

Die soziale Dynamik war sehr kompliziert. Es gab weniger Lebensmittel, aber dafür ein sehr spannendes Kulturleben, interessante Schriftsteller und Dichter. Heute hat man in Russland mehr Wurstwaren als Literaten. Früher konnten alle Russen singen und tanzen, jedes Kind hatte eine Musikschule direkt vor dem Haus, links war eine Sprachschule, rechts ein Stadion. Das ist jetzt alles wegen der Wurst verloren gegangen.

Ihr Sohn Sebastian studiert Gartenbau und hat eigentlich keinen Plan, wie das Leben weitergehen soll. Erkennen Sie sich in ihm wieder?

Ja. Er glaubt, dass keine Bildungseinrichtung auf der Welt ihm etwas beibringen kann, was er noch nicht weiß. Ich habe das auch von mir gedacht. Mit 18 war ich mit mir total zufrieden, aber ich hatte ein Problem mit der Außenwelt. Deshalb wollte ich das Land wechseln.

Was haben Sie mit 18 Jahren getan?

Ich habe Partys und Undergroundkonzerte in einer Wohnung in Moskau organisiert. Im Sommer veranstalteten wir Open-Air-Konzerte am Lagerfeuer im Wald. Unser Staat war eine strenge Diktatur; alles, was in Wohnungen stattfand, war gefährlich. Aber im Wald konnte man machen, was man wollte. Deswegen gibt es in der russischen Rockszene kaum E-Gitarren. Im Wald gibt es ja keine Steckdosen.

War die Erziehung in der Sowjetunion autoritärer als die im Westen?

Nein, sie war sehr locker. In der Sowjetunion gab es keinen wirtschaftlichen Druck, alle hatte die gleichen Wohnungen oder Schuhe. Insofern konnte man auch keine Karriere anstreben bzw. den Betrieb des Vaters übernehmen. Es war ja alles staatlich. Die Sowjetunion war ein entspanntes Land.

Also waren alle zufrieden?

Ein großes Problem war, dass kaum jemand ein Auto besaß, dafür waren die Straßen aber sehr breit für Fußgänger und Radfahrer. Erst kurz vor meiner Ausreise habe ich mir meinen ersten Walkman gekauft. Das Stück Plastik mit drei Knöpfen war teurer als die ganze Reise nach Deutschland.

Ihre Mutter lebt bei Ihnen, ist fast 89 Jahre alt und immer noch abenteuerlustig?

Sie spielt in letzter Zeit sehr viel Schach, gegen den Computer . Sie gibt damit an, dass sie bei Schwierigkeitsstufe 5 immer gewinnt. Ich glaube eher, dass der Computer keine Geduld hat. Und sie schaut sich mit ihrer Freundin Ballettvorführungen aus den 70ern an, die sie damals live im Bolschoi-Theater erlebte.

Die Kultur leidet unter Corona. Was treibt Menschen an, die behaupten, die größte Verschwörungstheorie sei die Pandemie?

Der Kontakt zwischen Virologen, Politikern und Bürgern war vielleicht nicht immer optimal. Die Maßnahmen betreffen gerechterweise die gesamte Bevölkerung. Doch manches ist unlogisch. Meine Mutter war kürzlich bei ihrem Hausarzt. Zwei Stunden später bekam sie einen Anruf: Zur gleichen Zeit war dort ein Corona-Infizierter. Das Gesundheitsamt riet ihr, nichts zu tun und abwarten. Ihre Hausärztin arbeitet weiter. Deswegen gibt es diese Demos. So meine Verschwörungstheorie.

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