Wer Shushi nimmt, gewinnt

In der armenischen Exklave Bergkarabach laufen die Vorbereitungen zur Entscheidungsschlacht

  • Philip Malzahn, Stepanakert
  • Lesedauer: 4 Min.

Das erste Zeichen des Krieges, wenn man von Armenien aus die Grenze nach Bergkarabach überquert, ist der weiße Rauch. Über 150 Hektar Wald stehen derzeit laut Regierungsangaben in Flammen, angezündet angeblich durch weiße Phosphorbomben der aserbaidschanischen Armee. Aserbaidschan bestreitet den Einsatz illegaler Waffen. Doch auch Stepanakert, die Hauptstadt der nur von Armenien anerkannten Republik Arzach, ist von einer riesigen Wolke umgeben. Die Straßen sind leer gefegt. Fast nur Männer sind geblieben. Mit hohem Tempo rasen sie in Autos durch die Stadt, holen Lebensmittel für die Front. Die Bremslichter der Wagen sind oft überklebt; die Gefahr ist groß, von einer Drohne angegriffen zu werden.

Stepanakert wird immer mehr zum Ziel aserbaidschanischer Attacken. Am 27. Oktober flog eine Rakete in das städtische Krankenhaus. Am Morgen des 31. Oktober eine weitere auf den städtischen Markt, in der Nacht zum 4. November waren es zwei. Borik, ein freiwilliger Soldat, hilft im Krankenhaus bei den Aufräumarbeiten. Während im Hintergrund die Gefechte vor der Stadt zu hören sind, kehrt er Glasscherben zusammen und hofft darauf, dass die USA Soldaten nach Arzach schicken werden, um ihnen zu helfen. Denn obwohl die Menschen hier sich lieber von Russland als von den USA helfen lassen würden, ist klar: Moskau wird nur eingreifen, sollte der Krieg armenisches Staatsgebiet erreicht. »Ohne Hilfe kann es gut sein, dass Karabach verloren geht«, sagt Borik. Doch er selbst werde trotzdem bis zum Ende bleiben.

Die Republik Arzach ist eine präsidiale Demokratie mit einer Einkammer-Legislative. Sie wurde erstmals 1923 als selbstständige Verwaltungszone in der Sowjetunion errichtet, blieb jedoch in die Sowjetische Republik Aserbaidschan eingegliedert. Während des Zerfalls der Sowjetunion wurde in einem Großteil der Region Bergkarabach im Zuge des Bergkarabachkonfliktes 1994 die Republik Arzach ausgerufen. Doch obwohl offiziell unabhängig, ist das Land bis heute finanziell, aber auch politisch auf Armenien angewiesen und funktioniert in vielerlei Hinsicht de facto als Teil Armeniens.

Die Nicht-Eingliederung Bergkarabachs in Armenien vor 30 Jahren sollte der Region eine gewisse Eigenständigkeit garantieren. Doch genau das ist derzeit das Problem: Obwohl Arzach von über 99 Prozent ethnischen Armeniern bewohnt ist, wird die Republik nicht von der UNO anerkannt und gehört offiziell noch zu Aserbaidschan. Immer wieder kommt es zum bewaffneten Konflikt zwischen beiden Seiten. Am 27. September startete Aserbaidschan mit türkischer Unterstützung eine Großoffensive auf Bergkarabach. Auch Söldner aus Syrien kämpfen auf der Seite Aserbaidschans.

Seit Beginn der Kämpfe gibt es sehr unterschiedliche Angaben zu den Todesopfern. Sicher ist: Insgesamt sind über 1000 Menschen gestorben und Zehntausende geflohen. Zuverlässige Zahlen wird es wohl erst nach Ende des Krieges geben. Nachdem die Aserbaidschaner im eher flacheren Westen Bergkarabachs schnell vorankamen, verläuft die Front nun durch die Berge. Vor der Hauptstadt Stepanakert liegt der Gipfelort Shushi. Bereits im Krieg Anfang der 1990er Jahre galt: Wer Shushi nimmt, gewinnt. Eine Großoffensive der Aserbaidschaner in der Nacht zu Mittwoch wurde jedoch zurückgedrängt.

Eine politische Lösung ist derzeit nicht in Sicht. Diese Woche hatten zwar die armenische und die aserbaidschanische Regierung vermittelt über den russischen Präsidenten Wladimir Putin verhandelt - erfolglos. Aber selbst wenn es eine Einigung gibt, hat das für die Situation vor Ort kaum Auswirkungen. Bereits drei Mal wurde eine Feuerpause vereinbart; drei Mal wurde sie innerhalb weniger Stunden gebrochen.

Die 69-jährige Alla harrt seit Wochen im Schutzbunker ihres Wohnhauses aus. Das Internet funktioniert noch, zusammen mit ihren Nachbarn sitzt sie den ganzen Tag am Handy und liest Nachrichten. Vor allem die Todeszahlen interessieren sie, denn alle kennen jemanden an der Front. Auch Allas Sohn ist dort. Einmal am Tag darf er sie anrufen. »Es ist der schönste, aber auch der traurigste Moment meines Tages«, sagt sie. Aus Sicherheitsgründen darf er ihr praktisch nichts erzählen. Weder wo er ist, noch wie es ihm geht.

Geboren und aufgewachsen ist Alla in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Dort hat sie russische Literatur studiert und dann als Lehrerin gearbeitet. Wie viele ethnische Armenier aus Aserbaidschan ist sie aufgrund von Diskriminierung nach Bergkarabach gekommen. Noch einmal umziehen will sie nicht. Sie wird hier sterben, das weiß sie. Auch dass das schon sehr bald sein könnte, ist ihr bewusst. »Aber ich bete für alle Aserbaidschaner und alle Mütter, die ihre Söhne an der Front haben. Möge Gott ihnen verzeihen.« Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat sie nicht viel übrig. Ein großosmanisches Reich will er wieder zum Leben erwecken, darin sind sich Alla und die übrigen Bewohner des Kellers sicher.

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