Der neue Spielplan

Bühnen weichen ins Netz aus, die Theaterkritik diskutiert über Dramatik

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 3 Min.

Nicht, dass die Theater hierzulande still ständen. Es wird weiter eifrig geprobt, wie allerorten weiter gearbeitet wird, und wieder einmal muss hektisch umdisponiert werden, denn die Bühnen sind vorerst für Publikum gesperrt. Das hat die Regierung verfügt, damit das Großkapital uneingeschränkt weiter akkumulieren kann. Freuen tut’s nebenher die Propagandisten der Digitalisierung, die nicht müde werden, jegliche Verbannung des Lebens in den Bildschirm als Fortschritt zu preisen - Second- Life als Realdystopie. Der in der DDR nicht unübliche Spott über neue Wohn- und Lebensräume als »Arbeiterschließfächer« oder »Fickzellen mit Fernheizung«, wie es Heiner Müller ausdrückte, erhält nun einen aktualisierten Sinn - plus die Lieferlohnsklaven von Lieferando und Co. So harrt man aus, durch Mittelklassensnobismus oder Prekaritätszynismus sediert, während die Welt sich rasant verändert und man immer überflüssiger wird.

»Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit«, hatte Ödon von Horváth bewusst ungelenk seinem grandiosen Abfuckstück »Geschichten aus dem Wienerwald« vorangestellt. 1931 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt, zog es den Hass der rechten Presse auf sich, weil es ungemildert die Gemeinheit und Niedertracht des Kleinbürgertums zeigte - als Voraussetzung des schon nach der Staatsmacht schielenden Faschismus. Dummheit, das war für Horváth keine Natur-, sondern eine gesellschaftliche Sache, die erwünschte und belohnte Abwehr von Erkenntnis. »Ich habe kein anderes Ziel als dies: Demaskierung des Bewusstseins«, sagte der Dramatiker über sich selbst. Am Schauspielhaus Hamburg hat Heike M. Goetze das Wirtschaftskrisenstück als ein düsteres Irren im Gestrüpp inszeniert, die Premiere wurde am Samstag für 1000 Zuschauer direkt im Netz übertragen.

Horváth gehört mit seinen gegen das Völkische gewendeten Volksstücken wie »Geschichten aus dem Wienerwald«, »Kasimir und Karoline«, »Glaube, Liebe, Hoffnung« und »Italienische Nacht« zum Kanon der auf deutschsprachigen Bühnen gespielten Texten. Zum zweiten Mal abgesagt werden musste nun die fürs Wochenende geplante »Lange Nacht der vergessenen Stücke« an der Berliner Volksbühne. Organisiert von Simon Strauß, dem Theaterredakteur der »FAZ«, sollte dort über die kaum oder nicht gespielten Glanzpunkte der dramatischen Literatur diskutiert werden - von Lord Byron bis Peter Hacks. Ausgangspunkt war eine von Strauß initiierte Reihe von Artikeln, die in dem Buch »Spielplanänderung!« dokumentiert ist. Unter gleichem Titel gibt es nun eine Videoserie im Netz, die heute startet.

Die Frage, die für die künstlerische Zukunft des Theaters zentral ist, betrifft die »Eigenart der dramatischen Gattung«, so Strauß. Man sollte das keineswegs als eine Frage des ästhetischen Konservatismus begreifen. Was ein Theatertext vermag, ist nicht deswegen bemerkenswert, weil es die Tradition verbürgt, sondern weil es unsere Welt zu enträtseln hilft - auf kritische Weise. Horváth ist nur ein Beispiel, wie auch Bertolt Brecht und Marieluise Fleißer. Ein Bühnentext, der große Widersprüche fasst, zeigt nämlich, wie Menschen unter nicht selbstgewählten Bedingungen etwas zu tun versuchen. Die Folgen ihrer Handlungen fallen nicht mit den Absichten in eins, die Sprache kontrastiert das Sein, außerdem spielen Ökonomie und Psychologie hinein. Wie wir unser eigenes gesellschaftliches Sein auf der Bühne darstellen, und uns dabei weniger belügen, als wir es alltäglich tun, bleibt weiterhin zu debattieren.

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