Das Kalkül ging (abermals) auf: Bellingcat bestimmt Politik

Russisches Außenministerium antwortete auf Sanktionen der EU mit Sanktionen gegen die EU

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Alexej Nawalny war im August auf einem Inlandsflug über Sibirien zusammengebrochen. Nachdem der Oppositionspolitiker nach Deutschland ausgeflogen worden war, wiesen die Befunde mehrerer westlicher Labore in seinem Organismus den einst in der Sowjetunion entwickelten Kampfstoff Nowitschok nach. In der westlichen Welt waren die Schuldigen an dem Mordversuch rasch ausgemacht.

Der Vorwurf, dass der russische Staat und damit der ehemalige Geheimdienstoffizier und heutige Präsident Wladimir Putin hinter allem stecken, ist zu ernst, um ignoriert zu werden. Nicht minder verwerflich ist es, die Tatvorwürfe zu inszenieren. Doch genau das geschieht seit Wochen. Anreger der vor allem medialen Kampagne sind Untersuchungen der angeblich unabhängigen Enthüllungsplattform Bellingcat.

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Die im Juli 2014 von dem Blogger Eliot Higgins gegründete Truppe hat schon mehrere Kampagnen losgetreten, die sich speziell gegen die russische Regierung richten. So veröffentlichte man Recherchen zu Verbrechen in syrischen Kriegsgebieten, prangerte diverse Menschenrechtsverletzungen im russischen Alltag an. Man untersuchte den Abschuss von Flug MH 17 im Juli 2014 über den Kampfgebieten in der Ukraine, bei dem 298 Menschen umgekommen sind. Reguläre russische Soldaten, so sagt Bellingcat, seien deren Mörder.

Stets passen die Rechercheergebnisse der investigativen Internetarbeiter bestens zusammen. Sie scheinen zudem unwiderlegbar - wenn man der von den Autoren vorgegebenen Erzählweise folgt, was manche an Auflage und Einschaltquoten interessierte Medien tun. An den Nawalny-Coup des Internetrechercheteams, haben sich Redaktionen von »The Insider«, »Spiegel« und CNN mit jeweils umfangreichen Berichten angehängt. Wie sie die Fakten gegengecheckt haben, bleibt ihr Geheimnis.

Das war schon so, als Bellingcat mit großer Energie Belege dafür gesammelt hat, dass der russische Militärgeheimdienst GRU für die Nowitschok-Vergiftung von Sergej und Julia Skripal 2018 in Großbritannien und 2015 für die von Emilian Gebrev, einem bulgarischen Waffendealer, verantwortlich sei. Nun soll der FSB, der auch hinter der Ermordung eines - laut Bellingcat - harmlosen georgischen Asylbewerbers in Berlin steckt, dieselbe Giftmordmethode angewandt haben.

Die Bellingcat-Rechercheure, hinter denen mit großer Sicherheit aus dem Geheimdienstmilieu stammende Experten stecken, bedauern, dass »kein Land seine Zuständigkeit erklärte, um die Vergiftung des politischen Aktivisten, Bloggers und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Nawalny zu untersuchen«. Von der EU im Oktober erlassene Sanktionen, unter anderem gegen den Chef des Inlandsgeheimdienstes Alexander Bortnikow, gegen den Vizechef der Präsidialverwaltung Sergej Kirijenko sowie den Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoschin, werden als zu schwach bewertet.

Man legte also nach und stellte angeblich nur durch Auswertung von Telekommunikations- und Reisedaten fest, dass der russische Föderale Sicherheitsdienst (FSB) hinter dem Attentat auf den russischen Oppositionspolitiker steckt. Bereits seit 2017 hätten Agenten Nawalny beschattet.

Es wäre verwunderlich, wenn das nicht so gewesen wäre. Dass die zum Teil namentlich Genannten jedoch einer geheimen Einheit angehören, die sich auf die Arbeit mit giftigen Substanzen spezialisiert hat, ist womöglich nur eine freie Zugabe der »Enthüller«. Sie soll jedoch weltweit klarmachen, dass Russland - entgegen klaren internationalen Abmachungen - weiter Chemie- und Biowaffen entwickelt. Und sie auch einsetzt. Es wird behauptet, dass Moskau nach dem Ende einschlägiger militärischer Forschungsprogramme im Jahr 2010 seine Entwicklungen nun »zivil« weitertreibe. Benannt werden ein Institut in St. Petersburg und eines in Moskau.

Doch wieder sind die Belege dünn. Drohnenaufnahmen, die Gebäudekomplexe zeigen, und Fotos von Verdächtigen verstärken die Indizien nicht. Zudem beruft man sich auf einen anonymen, in den USA lebenden ehemaligen KGB-Offizier, der die Giftlabore des FSB lokalisierte. Wer nachforscht, merkt, dass die Adressen bereits 2004 von dem übergelaufenen KGB-General Oleg Kalugin angegeben wurden.

Nun hat die Inszenierung des Falles Nawalny noch eine weitere Steigerung erfahren. Am 14. Dezember, also noch vor der Veröffentlichung des Bellingcat-»Spiegel«-Artikels, hat der genesene Oppositionspolitiker unter einer Legende angeblich mit FSB-Agenten telefoniert. Einer von ihnen hat angeblich ausgepackt. Man glaubt, so den »rauchenden Colt«, also den ultimativen Beleg für den Mordversuch und die russische Chemiewaffenforschung gefunden zu haben. Dass hinter allem Präsident Putin stecke, sei demnach evident. Logische Schlussfolgerung: Nun endlich müsse der Westen, insbesondere die EU, wirksame Sanktionen gegen Russland ergreifen.

Davor warnte die russische Regierung die am Dienstag ins Außenministerium zitierten Diplomaten aus Deutschland, Frankreich und Schweden. Institute aus diesen drei Ländern hatten - so wie die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) - nach dem Nawalny-Anschlag die Nowitschok-These bestätigt. Bereits vor Wochen hatte Moskau Reaktionen gegen Verantwortliche in der EU angedroht. Nun ist man nach dem Grundsatz »Haust du meine Tante, hau’ ich deine Tante« verfahren. Den vorgeladenen westlichen Diplomaten wurde eröffnet: Man habe »die Liste von Vertretern von EU-Mitgliedstaaten« verlängert, »denen die Einreise in die Russische Föderation untersagt wird«. Erfasst seien auch Personen, die an der »Eskalation der antirussischen Sanktionsaktivitäten« innerhalb der EU beteiligt seien.

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