Von Spotify kann kein Musiker leben

Warum 2020 auch musikalisch ein Albtraumjahr war

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir schreiben das Jahr 1975. Der »Rolling Stone« kürt die neuen Platten von Bob Dylan (»Blood On The Tracks«) und Bruce Springsteen (»Born To Run«) zu den Alben des Jahres.

Moment, es muss natürlich heißen: Wir schreiben das Jahr 2020. Die Journalisten und Leser des »Rolling Stone« wählen die aktuellen Werke von Bob Dylan (»Rough And Rowdy Ways«) und Bruce Springsteen (»Letter To You«) zu den Alben des Jahres. Letzterer ist 71 Jahre alt, Ersterer sieht seinem 80. Geburtstag entgegen. Natürlich haben es auch jüngere Musiker in die Rangliste geschafft, zum Beispiel der 66-jährige Elvis Costello (»Hey Clockface«) und der 57-jährige Jarvis Cocker (»Beyond The Pale«). Inmitten dieser altehrwürdigen Riege wirkt die 43-jährige Fiona Apple (»Fetch The Bolt Cutters«) wie ein Küken.

Was all diese Künstler vereint: Sie schafften den Durchbruch in einer Zeit, in der man Tonträger noch in Presswerken oder Spritzgussmaschinen herstellte. Die Fans waren es gewohnt, die Alben anzufassen, und kauften sie daher für teures Geld als LP oder CD. So gelang es der erst 19-jährigen Fiona Apple zur Millionärin zu werden. Das war 1996, in einem der letzten Boomjahre der Musikindustrie. Zur Jahrtausendwende wurden in den USA noch fast eine Milliarde CDs verkauft, heute sind es nicht mal 50 Millionen.

Von den Spotify-Einnahmen aber kann kein Musiker leben. Die klassische Vinyl-Single kostete im Laden sechs DM, nach heutiger Kaufkraft ungefähr zehn Euro. Davon erhielt der Interpret etwa vier Prozent. Das erscheint wenig, war aber im Vergleich zu den heutigen Streaming-Erlösen üppig. Denn pro Stream gibt es für den Künstler heute statt 40 Cent nur noch 0,4 Cent - willkommen im digitalen Zeitalter!

Dadurch hat sich das Geschäftsmodell der Branche ins Gegenteil verkehrt. Früher dienten Tourneen dazu, die Album- und Singleverkäufe anzukurbeln. Entsprechend günstig waren die Eintrittskarten. Für läppische 20 DM Euro konnte man Bands wie New Order, Depeche Mode oder Tears For Fears Mitte der 80er live erleben. Heute liegen die Preise für Konzerte - selbst für Interpreten aus der zweiten Reihe - um ein Vielfaches höher. Wo mit Albumverkäufen nichts mehr zu holen ist, muss das Geld auf der Bühne erarbeitet werden.

Mit Corona ist diese Einnahmemöglichkeit weggebrochen. Das virusbedingte Auftrittsverbot hat nicht nur die Independent-Szene, die seit jeher von Konzerteinnahmen und dem damit verbundenen Fanartikelverkauf lebt, ihrer Existenzgrundlage beraubt. Auch Musiker, deren Schäfchen man im Trockenen wähnte, sind in Geldnöte geraten. Im Dezember gab David Crosby (der von Crosby, Stills, Nash & Young) bekannt, er werde all seine Liedrechte verkaufen. »Ich habe eine Familie und eine Hypothek, um die ich mich kümmern muss. Wenn wir für Platten anständig bezahlt würden und live spielen könnten, würden wir es nicht tun. Keiner von uns.«

Noch trister sieht die Lage für jene aus, deren Songkatalog nicht so viel abwirft. Anfang September sandte Lloyd Cole, der mit seinen Commotions in den 80ern für vier Goldene Schallplatten gut war, auf Facebook einen Hilferuf aus: »Der Verlust eines ganzen Jahreseinkommens reicht, um die meisten in den Bankrott zu treiben. Mich eingeschlossen.« Also bat er um Ratschläge, wie man die Zahl seiner Patreon-Abonnenten steigern könne. Patreon ist ein Dienstleister, der im Internet für Künstler Geld einsammelt (vergleiche »nd« vom 24.6.). In Form eines Abonnements können Privatpersonen darbenden Musikern (aber auch Bloggern oder Podcastern) regelmäßig einen festen Betrag zukommen lassen. Im Fall von Lloyd Cole hat man die Wahl, ihn mit 3, 5 oder 7,50 Euro monatlich zu unterstützen. Im Gegenzug erhält der Förderer - je nach Betrag - unter anderem Einblicke in dessen digitalisierte Notizbücher sowie Gitarrenunterricht per Video. Der Fan wird so zum Kleinmäzen.

Doch wie viel wirft Patreon tatsächlich ab? Cole beklagte, dass nur 0,5 Prozent seiner 34 000 Facebook-Anhänger ein Patreon-Abo hätten. Das sind 170 Leute. Bei fünf Euro monatlich kommen so 850 Euro zusammen - über solche Beträge hätte Cole in den 80er Jahren vermutlich gelacht. Doch heute scheint Patreon eine der wenigen Möglichkeiten zu sein, überhaupt noch Einnahmen zu erzielen. Auch deutsche Songwriter wie Tom Liwa (Ex-Flowerpornoes) nutzen mittlerweile die Plattform, um ihre Fans zu Sponsoren zu machen. Bei ihm erhalten Abonnenten übrigens vier Audioposts pro Monat.

Und wer noch keinen Namen hat? Vor Corona konnten sich junge Bands und Interpreten durch hartnäckiges Touren einen Ruf erarbeiten. Diese Möglichkeit gab es 2020 nicht. Trotz aller im heimischen Wohnzimmer entstandenen Musikprojekte und Songs - berühmt wird man auf diese Weise nicht. Deshalb überrascht es nicht, dass Musikzeitschriften wie der »Rolling Stone« oder der »Musikexpress« lieber die 70er, 80er und 90er feierten und die Toten, wie John Lennon, Ian Curtis (Joy Division) und David Bowie, wieder aufstehen ließen. Da traf es sich gut, dass die lebenden Helden von einst die Corona-Auszeit nutzten, um ins Tonstudio zu gehen. So konnte wenigstens der Anschein gewahrt werden, 2020 wäre neue Musik entstanden. So neu, wie man sie von Menschen erwarten kann, die auf die 80 zugehen.

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