Überwältigt von der Pandemie

Präsident des Verbands irischer Krankenhausärzte spricht von nationalem Notstand

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Zeiten haben sich radikal geändert: Anfang Dezember galt Irland noch als Vorbild. Ein sechswöchiger Shutdown hatte dafür gesorgt, dass die Behörden die Pandemie weitgehend unter Kontrolle hatten. Das Land verzeichnete die tiefste Infektionsrate in Europa, entsprechend war die Regierung zuversichtlich genug, sodass sie die Einschränkungen lockerte. Aber nur wenige Wochen später schaut die Welt mit Entsetzen auf die Republik: Am Montag wies das Land die höchste Ansteckungsrate weltweit auf, die Krankenhäuser haben wegen der steigenden Zahl an Covid-Patienten Alarm geschlagen. Der Präsident des Verbands irischer Krankenhausärzte, Alan Irvine, sprach von einem »nationalen Notstand.«

Am Montag meldete die Weltgesundheitsorganisation, dass Irland in der Woche zuvor über 10 000 neue Covid-Fälle pro Million Einwohner verzeichnete - so viele wie nirgendwo sonst. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei über 900 Fällen pro 100 000 Einwohner - am 10. Dezember waren es noch weniger als 50 gewesen. Die Pandemie hat Irland innerhalb eines Monats überflutet. Am Dienstagabend warnte Tony Holohan, der medizinische Chefberater der Regierung, dass sich das Land »auf absehbare Zeit« auf eine hohe Zahl an Covid-Todesfällen einstellen solle.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Schon jetzt hat der Gesundheitsdienst Mühe, die steigende Zahl an Patienten zu bewältigen. Medien berichteten, dass Sanitäter des Letterkenny University Hospital, im Nordwesten Irlands, am Sonntag Covid-Patienten in ihren Rettungswagen versorgen mussten, weil es im Krankenhaus keinen Platz gab. »Wegen Fachkräftemangel stehen viele Betten nicht zur Verfügung, und die Notfallabteilung ist rappelvoll«, sagte Neal Donohue vom Pflegerverband INMO. Auch andere Krankenhäuser im Land sind an ihrem Limit. Professor Philip Nolan, der im irischen Corona-Notfallkomitee sitzt, bezeichnete die Lage als »präzedenzlos«.

Verantwortlich für die dramatische Eskalation ist unter anderem neue Covid-Variante, die erstmals in Großbritannien entdeckt wurde und sich auch dort schnell ausbreitet. Gesundheitsexperten zufolge ist sie bis zu 70 Prozent ansteckender als die alte.

Aber Gesundheitsexperten bemängeln auch die Krisenstrategie der Regierung - insbesondere die Lockerung der Einschränkungen vor Weihnachten. Als die meisten europäischen Länder vor den Festtagen bereits scharfe Einschränkungen eingeführt hatten, besuchten die Irinnen und Iren noch immer Pubs und Restaurants. Am 22. Dezember kündigte Premierminister Micheál Martin einen erneuten Lockdown an. Zwar gebe es noch keine Beweise, dass die neue Virus-Variante im Land angekommen sei, aber er werde »unter der Annahme vorgehen, dass dies der Fall ist.« Allerdings fiel der Lockdown nicht so streng aus wie in anderen Ländern: Während Pubs, Restaurants und Friseure am Heiligabend wieder schließen mussten, waren Besuche bei Verwandten über die Weihnachtstage noch erlaubt. Auch blieben die meisten Läden weiterhin geöffnet.

Seán L’Estrange, Soziologe am University College Dublin, bezeichnete die Krisenstrategie der Regierung als »leichtsinnig«: »Sie haben die Beweise ignoriert«, sagte er gegenüber dem Guardian. »Selbst (der britische Premierminister Boris, d. Red.) Johnson hat am Ende eine Kehrtwende vollzogen und Weihnachten in England abgesagt. Aber unsere Leute hier haben ihre Finger in die Ohren gesteckt.« In einem Versuch, die Lage doch noch in den Griff zu bekommen, verschärfte Premierminister Martin vergangene Woche die Einschränkungen noch mal. Die meisten Schulen und Baustellen bleiben für mindestens drei Wochen geschlossen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal