Die nächsten Wochen durchhalten

Die Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Parr über die Arbeit der Beratungsstelle »Pflege in Not«

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie hat sich die Arbeit Ihrer Beratungsstelle »Pflege in Not« seit Beginn der Pandemie entwickelt?

Seit den ersten bundesweiten Schließungen haben wir ab Mitte März unsere Sprechzeiten verdreifacht. Für diejenigen, die zu Hause Angehörige pflegen, wurden schlagartig alle Unterstützungsangebote eingefroren, darunter auch die Tagespflege. Das betrifft bundesweit immerhin drei Viertel aller Pflegebedürftigen. In der Beratungsstelle war uns von Anfang an klar, dass sich in der häuslichen Pflege Dramen abspielen werden. Deshalb entschieden wir uns, die Telefonberatung auf sechs Stunden am Tag und zusätzlich den Sonnabend auszudehnen.

Gabriele Tammen-Parr

Die Berliner Beratungs- und Beschwerdestelle »Pflege in Not« hilft in Konflikten bei der Pflege älterer Menschen. Träger ist das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte. Ein kleines Team von Haupt- und Ehrenamtlichen wird seit 1999 von der Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Parr geleitet. Sie ist auch Ehe-, Familien- und Lebensberaterin sowie Mediatorin.

Wie änderte sich der Inhalt der Anfragen?

Wenn die Unterstützung etwa durch den Besuch der Tagespflege wegfällt, steigt die Belastung für die Pflegenden stark. Hinzu kam anfangs, dass manche Familien die Pflegedienste als Infektionsquelle ansahen, es gab Unsicherheit über die Schutzmaßnahmen, so dass einige vorsichtshalber diese Unterstützung abbestellten. Auch das erhöhte die Belastung. Innerhalb der Familien wurde die Infektionsgefahr unterschiedlich eingeschätzt: Darf die alte Mutter noch umarmt werden oder sollte man nur noch die Einkäufe vor der Tür abstellen?

Auch in den Heimen haben sich Dramen abgespielt: Menschen versuchten, in die Pflegeeinrichtungen zu kommen, stiegen über Hecken, riefen von der Straße. Das war bitter. Für die Einrichtungen brachte die Situation große Belastungen: Pflegekräfte schränkten sich privat sehr ein, um die Ansteckung nicht mit zur Arbeit zu bringen. Sie mussten mehr arbeiten, weil sie die Angehörigen ersetzen mussten. Die Leitungen kamen kaum hinterher, immer neue Verordnungen zu lesen, umzusetzen und ihre Beschäftigten zum Durchhalten zu motivieren.

Gab es nicht im Laufe des Jahres eine Entspannung?

Nicht wirklich! Nur die Themen haben sich verändert. Von März bis Juni standen die extremen Belastungen in der häuslichen Pflege im Vordergrund. Ab Sommer waren nach den Besuchsverboten die neuen Besuchsregelungen das vorherrschende Thema. Letztere waren sehr unterschiedlich, das wurde von den Angehörigen teils als Willkür erlebt. Manche Einrichtungen bauten Zelte im Garten auf oder Bretterzäune mit Plastikfenstern. Aber die alten Menschen sehen und hören oft schlecht, deshalb hatte das Grenzen. Manche Angehörige sind deshalb in ständigem Konflikt mit den Einrichtungen. Die Bereitschaft der Heime, bei laufendem Betrieb zusätzliche Arbeit zu leisten, wurde von den Anrufern unterschiedlich erlebt. Das »Besuchsmanagement« war über Monate ein permanenter Anlass für Kritik. Einige Heime haben von sich aus Handys und Tablets gekauft; ihre Auszubildenden, die ja keine Berufsschule hatten, haben die Bewohner*innen aufgesucht und haben auf den Geräten Kontakt zu den Angehörigen hergestellt. Andere Heime haben wenig unternommen, so die Beschwerden und Klagen von Angehörigen.

Wie sieht es aktuell aus?

Inzwischen sind die Unterstützungsangebote, wenn auch stark ausgedünnt, wieder angelaufen. Es gibt wieder die Tagespflege, aber in kleineren Gruppen. Alle Beteiligten sind sehr vorsichtig und hoffen, auch noch die nächsten Wochen durchzuhalten. Die Heime wollen ansteckungsfrei bleiben. In Berlin wurde pro Bezirk ein Pflegestützpunkt freigemacht, an dem sich Angehörige vor dem Besuch in einem Pflegeheim testen lassen können, damit die Einrichtungen entlastet werden. Aktuell kommt für die Heime hinzu, dass sie auch die Impfungen ihrer Bewohner begleiten müssen. Die Anrufe bei uns waren von März bis in den Herbst hinein von viel Angst und Verzweiflung geprägt. Im Moment ist es eher Durchhalten, aber auch Ungeduld, etwa was das Impfen betrifft. Die Heime könnten im Februar mit der zweiten Impfdosis durch sein. Viele hoffen jetzt auf diesen Moment.

Mit dem Impfen kommen also andere Beschwerden bei Ihnen an?

Ja, so fragen die Angehörigen von bettlägerigen Pflegebedürftigen, warum sie nicht gleich zusammen geimpft werden. Oder die Begleitpersonen von den gebrechlichen Menschen, warum das auch für sie in den Impfzentren nicht gleichzeitig möglich sein soll. Wir können dieses Bedürfnis sehr verstehen, aber nach unserer Kenntnis ist dies zur Zeit nicht umsetzbar. Zuerst werden die Hochaltrigen eingeladen, nach den Daten der Meldeämter.

Welche Hilfsangebote können Sie unter den aktuellen Bedingungen noch machen?

Früher haben wir z.B. bei Beschwerden bei den Pflegeheimen angerufen, ihre Meinung zu dem vorgetragenen Konflikt eingeholt und dann oft Gespräche oder eine Mediation vor Ort angeboten. Oder wir versuchten zum Beispiel, über Berliner Bezirksgrenzen hinaus einen Platz in der Tagespflege zu finden. Das alles ist zum ersten Mal nicht mehr möglich. Wir können mit den Ratsuchenden aber »gemeinsam ein Stück gehen«, wie es eine Kollegin ausdrückte. Es gibt momentan keine schnellen Lösungen, es geht darum, mit den Problemen umzugehen, darüber zu sprechen. Wir suchen gemeinsam nach kleinen Erleichterungen in der aktuellen Situation: Was fällt etwa einer pflegenden Angehörigen am schwersten? Wo gibt es noch Freunde oder neue nachbarschaftliche Angebote, die helfen könnten? Oder wir empfehlen Menschen mit Angehörigen in Pflegeheimen, selbst ein Handy zu kaufen, es möglichst vorher richtig einzustellen und in das Heim zu schicken. Wir besprechen also auch praktische Fragen. Im Moment geht es oft darum, die Situation auszuhalten.

Konfliktsituationen in der familiären Pflege haben aber auch zugenommen?

Ja. Schon im normalen Alltag gibt es genug belastende Momente. Durchschnittlich dauert die häusliche Pflege eines pflegebedürftigen alten Menschen zehn Jahre. Das verändert Beziehungen, zwischen Partnern oder auch zwischen (erwachsenen) Kindern und Eltern. Es entsteht eine »Schieflage«, die die Beziehung grundlegend verändert. Körperliche und emotionale Abhängigkeit entsteht. Zwischen Eltern und Kindern wird bei der Pflege oft eine große körperliche Nähe nötig, die nicht unbedingt gewünscht ist. Erwachsene Kinder müssen Entscheidungen treffen, die Führung übernehmen - was nicht ihrer ursprünglichen Rolle in der Familie entspricht. Demenzerkrankungen halten besondere Herausforderungen bereit.

Nicht nur in einer solchen Konstellation ist es schwierig, den Spagat zwischen Freiheit und Sicherheit zu schaffen. Die Beziehung zwischen den Betroffenen spielt eine zentrale Rolle. Im Laufe der gemeinsamen Beziehung gab es Kränkungen und Verletzungen, die meist nicht geklärt oder verziehen wurden. Andauernde Überforderung bringt auch das an die Oberfläche. Hinzu kommen jetzt räumliche Enge und fehlende Ausweichmöglichkeiten, die alles noch belastender machen. Hohe Erwartungshaltungen an den Partner oder der Pflegenden an sich selbst überfordern zusätzlich.

Welche Forderungen stellen Sie an die Politik?

Andere Bundesländer beneiden Berlin: Wir haben hier ein gut gespanntes Beratungsnetz rund um die Pflege, drei Pflegestützpunkte pro Bezirk und viele weitere Beratungsangebote für alte Menschen und pflegende Angehörige. Zusätzlich gibt es unsere pflegeergänzende Spezialberatungsstelle.

Wenn die Pflege schwer wird und trotz bester Absichten Wut und Groll den Pflegealltag dominieren, stehen wir vor allem pflegenden Angehörigen zur Seite. Dieses Angebot existiert nur 14 mal in Deutschland, also nicht in allen Bundesländern, manchmal nur für einzelne Großstädte. Über 60 Prozent der Menschen, die zu Hause gepflegt werden, erhalten Pflegegeld - die Aufgabe wird also von den Angehörigen allein bewältigt. Es muss viel mehr gewürdigt werden, was die Familien leisten. Die Gesellschaft ist darauf angewiesen! Würden sie diese Arbeit plötzlich beenden, hätten wir nicht genug Einrichtungen für die Pflegebedürftigen. Die Angehörigen sollten noch viel mehr unterstützt werden. Dazu gehört auch, die Tabus anzusprechen: Ja, es gibt psychische Gewalt, Drohungen, Abwertung, Beschimpfungen. Weil Pflege in der Familie viele müde und mürbe macht.

In der Beratung bei Pflege in Not geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern immer um Unterstützung. Ich glaube wir können nicht genug wertschätzen, was tagtäglich in den Familien geleistet wird.

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