Spieglein, sag mir

Was soll das Theater zeigen? Und wie? Darüber wird gestritten.

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 6 Min.

Hierzulande sind die Theater weiterhin geschlossen. Aber was würde man eigentlich auf der Bühne sehen wollen, wenn man nur dürfte? Eine gute Gelegenheit, das zu diskutieren, könnte man meinen. Doch nicht nur was, sondern auch wie es zu zeigen wäre, war immer Gegenstand von Kontroversen. Und das Theater als Kunstform wäre erledigt, würden diese Fragen nicht in jeder Epoche aufs Neue gestellt. Es diskutiert sich aber nicht so leicht dieser Tage. Vor zwei Wochen stellte Carmen Aguirre einen Videoessay ins Internet. Darin beklagt die chilenisch-kanadische Theatermacherin eine »Zeit der großen Säuberung« im Theater. Gemeint ist der identitätspolitische Furor, mit dem die antikapitalistische, antikoloniale und antirassistische Künstlerin ein Problem hat. Zum einen herrscht eine große Leerstelle in Bezug auf die soziale Klasse, sagt Aguirre. Bei Klasse geht es um soziale Beziehungen, fügt sie hinzu, insbesondere auch künftige. Zum anderen sei die Identitätspolitik bloß Mittelklassenpolitik, die sich vor allem auf Selbstidentifikation konzentriert. Das gehört zusammen. Wer sich nur selbst bespiegelt, verliert die soziale Realität aus dem Blick. Und erträgt es nicht, sollte das Selbstbild gestört werden. Nun spricht Aguirre mit deutlichen Worten eine Entwicklung an, die sich schon länger angedeutet hat.

Im deutschsprachigen Theater hat es in den vergangenen Jahren verschiedene Debatten gegeben. Über Realismus, über Repräsentation, über Moralismus. Die Konfliktlinien waren teils ähnlich. Denn zwischen Darstellung der Wirklichkeit mit ihren Konflikten einerseits und Empowerment mit theatralen Mitteln andererseits liegt ein Widerspruch, der sich nicht einfach beiseite tun lässt - und nur in großen Theatermomenten mag es gelingen, beides zu verbinden. Es gibt mehrere Weisen, eine Sache zu betrachten, die sich nicht ohne weiteres miteinander vertragen. So hat Şeyda Kurt kürzlich in dem Online-Theaterfeuilleton »nachtkritik« geschrieben: »Wenn die Theater wieder eröffnen sollten, begleite ich meine Mutter wieder ins Theater. Am liebsten in ein feministisches Rache-Stück, bestenfalls in türkischer Sprache. Die Darstellenden sollten um die 60 Jahre alt sein. Und wir brauchen einen Hocker, auf dem wir die Beine hochlegen können, denn meine Mutter hat Rückenschmerzen. Und dazu wollen wir Brötchen mit Pastırma serviert bekommen.« Polemisch könnte man hier anmerken, dass eine solche Erwartungshaltung sich auch mit dem Aufstellen eines großen Spiegels befriedigen ließe - Theater als Selbstidentifikation. Das wird nicht besser dadurch, dass es jene betrifft, die - wie Kurts Mutter - sonst kaum ins Theater gehen. Im Gegenteil werden die auch darum betrogen, was eigentlich auf der Bühne möglich wäre: Konfrontation mit etwas Neuem und dem Fremden in und außer sich. Angstlos und lustvoll zugleich. Theater kann Selbstbespiegelung - sei‘s auch in bester Absicht! - des Publikums leisten. Es kann aber noch viel mehr, das ist das Problem dabei.

Nun wurde auch über die Widerspiegelung im Theater schon diskutiert. Meist war damit aber, nehmen wir beispielsweise Bertolt Brecht und Georg Lukács, die der Wirklichkeit gemeint. Und von einfacher Widerspiegelung war bei beiden keinerlei Rede, was mit ein paar Eigentümlichkeiten kapitalistischer Vergesellschaftung zu tun hat - unter anderem mit der Scheinhaftigkeit der Unabhängigkeit des Einzelnen, was sich auch in dem postmodernen Selbstverwirklichungszwang zeigt. Dass man die Widerspiegelung aber allein auf das Publikum beziehen könnte, klingt wie ein zu wörtlich genommener Andrej Schdanow, nur ohne Klassenstandpunkt und kompatibel fürs Kulturmanagement: Die Zielgruppe ist alles, zugleich bekommt sie nur noch sich selbst zu Gesicht. In der Verdoppelung der Identitäten läuft das auf »kapitalistischen Realismus« hinaus, wie es Mark Fisher nannte. Die Vorstellung, dass die Welt anders sein könnte, dass damit auch eine andere Subjektivität und andere soziale Beziehungen zu gewinnen wären, bleibt außen vor. Verhandelt werden nur noch konkurrierende Anerkennungsansprüche der ökonomisch strauchelnden Mittelklassen. Dass sich dann immer jemand nicht ausreichend repräsentiert fühlt und diesen Anspruch dann blindwütig durchzusetzen meint, liegt in der Logik der Sache.

Völlig zu Recht - und im Gegensatz - hat Michael Wolf, ebenfalls auf »nachtkritik«, also ein paar grundsätzliche Dinge, das Theater betreffend, in Erinnerung gerufen. Ihm geht es um ein »Theater, das nicht woanders sein will, das sein eigenes Thema ist, ein Spiel, das seine eigenen Regeln erfindet.« Gemeint ist damit die Autonomie des Ästhetischen, nicht begriffen als Unabhängigkeit oder Kritiklosigkeit der Künstler, sondern als Eigengesetzlichkeit der Kunst. »Theater ist nicht offen, es will die Welt da draußen nicht verdoppeln oder verändern, es unterbreitet ein besseres Angebot. In dieses Theater würde ich gerne bald zurückkehren, in einen Raum ohne Fenster, einen Raum, in dem ich überall sein kann.« Zunächst macht Wolf hier auf einen Widerspruch der darstellenden Kunst aufmerksam. Denn nur indem sie sich selbst beschränkt, kommt sie als Form des Imaginären wirklich zur Geltung. Sie muss sich in Differenz zur Wirklichkeit setzen. Und wenn es dazu einen Raum ohne Fenster mit geschlossenen Türen braucht, warum nicht. Das ist freilich nur eine Variante, diese Differenz zu markieren, aber immerhin eine, die davor schützt, einfach mit der Welt zu verschmelzen, was (soweit man weiß) weder der Kunst noch der Welt nützt.

Wolf aber argumentiert nicht für eine Kunst um ihrer selbst willen. Indem er feststellt, dass Kunst in ihrer Differenz zur Welt zugleich ein Urteil über diese fällt und zugleich einen besseren Vorschlag unterbreitet, ist er an dem Punkt, der in der Theaterdebatte unserer Tage offenbar nur schwer zu denken ist: die dialektische Einheit von Selbst- und Fremdreferenz im Kunstwerk. Und je raffinierter das Zeichensystem des Werks, desto eher mag es gelingen, dass das etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat. Das Problem ist nur: Das interessiert heute so gut wie niemanden mehr. Und honoriert wird es im Betrieb immer seltener. Förderung und Aufmerksamkeit orientieren sich mehr und mehr an einer nur auf Diskurse und Identitäten orientierten Diversität, die mit wirklicher Inklusion ungefähr so viel zu tun hat wie eine Plakatkampagne gegen die Übel der Armut mit der praktischen Abschaffung der Armut. Das paradoxe Resultat ist, dass eine so verstandene Diversität zu Anpassung und Angleichung führt. Das ist, was auch Aguirre kritisiert: »Wenn wir in unserer Theaterwelt Uniformität des Denkens im Gegensatz zur Souveränität des Denkens wollen, haben wir kein Recht zu behaupten, dass wir danach streben, inklusiv und vielfältig zu sein.«

Der Widerspruch des heutigen Theaters scheint nun auch darin zu liegen, keine genuin künstlerischen Antworten auf die Probleme zu finden, derer man sich annimmt. Man bedient sich dann beispielsweise im Repertoire des Aktivismus. Solche Wiederaufführungen wirken jedoch oft abgegriffen und kaum überzeugend. Der gewaltigen Aufgabe, die Welt wieder einzurenken, dient, wie Brecht einmal anmerkte, unter allen Instrumenten auch ein dünnes, zerbrechliches, das leichte Handhabung beansprucht. Das ist auch eine Frage des Könnens. Mit Aguirre lässt sich aber schlussfolgern, dass der Mangel an Fantasie und Gestaltungswillen im Theater zugleich soziale Gründe hat. Die Klasse, die der bürgerlichen Gesellschaft ihren Namen gab, ist nicht mehr in der Lage, mit der Welt irgendetwas Vernünftiges anzufangen - gescheitert an der eigenen Produktionsweise. So herrschen stattdessen bornierte Selbstversicherung und angstgetriebene Abwehr vor. Es wäre allerdings für die Kunst wie die Künstler von Interesse, das zu ändern. Und das auch im Interesse jener, denen ebenfalls daran gelegen sein muss, anders zu leben und zu produzieren. Man könnte in diesem Sinne ein ästhetisches Programm ersinnen, das - statt der bloßen Selbstidentifikation - mit den Mitteln des Theaters zur Leerstelle der sozialen Klasse einen besseren Vorschlag zu unterbreiten hätte.

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