Aus dem Sumpf geborene Metropole

Zwischen Morast und Prunk: Matthaei & Konsorten spüren in einem Theaterfilm den Ursprüngen Berlins nach

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Schein der Taschenlampe glänzt eine goldene Verzierung an dem Portal, das über dem Eingang zur Gruft thront. Albrecht Henkys, Kurator des Museums der Nikolaikirche, führt eine kleine Gruppe von Menschen durch das kühle Halbdunkel und weist mit seiner Lampe auf Glitzerndes, Glänzendes und Prunkvolles hin. Die Besucher*innen haben sich an diesem Herbstabend einer von vier »Probebohrungen« angeschlossen, wie Regisseur Lukas Matthaei die explorativen Ausflüge in unterschiedliche Regionen der Stadt nennt. Dort erfahren die Gäste Informatives und Anekdotisches zur Geschichte der jeweiligen Orte und erleben Solo-Auftritte der vier Darsteller*innen, die später gemeinsam in den Sophiensaelen zu sehen sein sollten.

Eigentlich sollte das Projekt Ende November unter dem Titel »Die Sumpfgeborene« in einer Performance gipfeln, die von den vorausgegangen Probebohrungen inspiriert wurde. Aus dem gesammelten Material entwickelten die Mitglieder von Matthaei & Konsorten, wie dieses Kollektiv offiziell heißt, eine »Barocknovela«. Aufgrund der Pandemie ist es nun doch etwas anders geworden. »Die Sumpfgeborene« wurde zum Theaterfilm, der am 27. März Premiere hat.

Ausgangspunkt der Erforschungen von Matthaei & Konsorten sind die Ursprünge einer Stadt, die aus dem Morast gestampft wurde - im Gegensatz zu Botticellis Venus, die aus dem Schaum des Meeres geborenen wurde. Diese Idee der aus dem Sumpf entsprungenen, barocken Vergangenheit zieht sich als roter Faden durch die vier Orte der Probebohrungen. »Das ist die Inspirationsfläche, auf der wir uns bewegen«, sagt Lukas Matthaei. Wo werden diese Wurzeln heutzutage sichtbar? Wie verhalten sie sich zur Gegenwart der Stadt und ihren Bewohner*innen? Das sind die Fragen, die das Ensemble interessieren.

Der barocke Prunk der Vergangenheit ist in der Nikolaikirche noch allgegenwärtig. Den Eingang zur Gruft, auf den Albrecht Henkys den schmalen Schein seiner Taschenlampe richtet, ziert eine eingefallene Figur mit turbanartigem Kopfschmuck, die ein rundliches Baby fassen will. »Der Tod versucht das Kind festzuhalten«, erklärt Henkys den Besucher*innen, die ihre Blicke zu dem Portal erheben, das Andreas Schlüter (1659-1714), Bildhauer und Architekt des Barock, für den damaligen Hofgoldschmied Daniel Männlich entworfen hat.

Woher das Gold kam, das hierzulande verarbeitet wurde? Henkys berichtet, dass Brandenburg schon im 17. Jahrhundert eine Kolonie im heutigen Ghana hatte, an der sogenannten Goldküste Westafrikas. »Man hat nicht auf dem Schirm, dass Brandenburg schon im Barock Kolonien hatte«, sagt Matthaei. Von Ghana aus wurden damals Sklav*innen nach Amerika verschleppt. Die Profiteur*innen der Ausbeutung ließen sich währenddessen prunkvolle Gruften in der Berliner Nikolaikirche bauen -»Gedächtnisimmobilien«, wie sie Henkys nennt.

Eine dieser Grabkammern bildet die Kulisse für die Performance der Schauspielerin Bati Nehoya. Sie setzt sich an einen Tisch, unter dem menschliche Gebeine hervorgucken. Hinter ihr laufen auf LED-Tafeln kryptische Schriftzüge vorbei: »Please come back your mother and I are waiting for you« (»Bitte komm zurück, deine Mutter und ich warten auf dich«). Der Bezug der vorgetragenen Texte zu Ort und Thema erschließen sich beim ersten Hören nur teilweise. Bati Nehoya liest unter anderem Tagebuchaufzeichnungen aus dem Dreißigjährigen Krieg, etwa von einem Söldner und einem Schuster. Andere Texte stammen von Bati Nehoyas Großvater, der als Mitglied der SWAPO in Namibia für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft hat, erzählt Lukas Matthaei. Auch Nehoya wurde in Namibia geboren, wurde aber wie andere Sprösslinge namibischer Befreiungskämpfer zu ihrem Schutz in die DDR gebracht und wuchs dort auf.

Bei der »Sumpfgeborenen« verweben die Protagonist*innen persönliche Geschichten mit der Geschichte und Gegenwart der Stadt. Oft spielen bei Matthaei & Konsorten Orte eine Rolle, die im Alltag der Zuschauer*innen und der Mitwirkenden präsent sind. Die Probebohrungen der »Sumpfgeborenen« aber führten - abgesehen von der Nikolaikirche - an Orte, die jenseits des Stadtzentrums und wohl auch außerhalb der Wahrnehmung vieler Stadtbewohner*innen liegen. Ein Ausflug führte zu den Hallen eines Baustoffrecycling-Hofes in Heinersdorf, weit im Norden der Stadt. Selbst dort, wo die Fassaden, Büros und Wohnungen der Stadt zu Brocken und Staub zerschlagen werden, findet Lukas Matthaei Anknüpfungspunkte zum Barock - nämlich im Motiv der Vanitas, der Vorstellung von der Vergänglichkeit des Irdischen.

In Szene gesetzt wurde der Ort, an dem am Rande der Stadt ihre stinkenden Abfälle verarbeitet werden, durch ein Baggerballett. Auch Tanz und Feiern gehörten zum Barock, wie Matthaei & Konsorten auf den Rieselfeldern in Gatow zeigten. Was heute als Ausflugsziel und Picknickplatz dient, sei früher ein Ort gewesen, an den Fäkalien aus der Stadt gebracht wurden, berichtet Matthaei. Für das Ensemble ein guter Ort, um höfische Festkultur aufleben zu lassen. Motive von Schuld und Reue, die auch in barocken Kantaten bearbeitet werden, spielten bei der vierten Probebohrung eine Rolle. Diese führte in den »Mäusebunker«, ehemaliges Tierversuchslabor in Lichterfelde und Ikone des Brutalismus.

Matthaei arbeitet bei seinen Produktionen mit diversen Teams und Künstler*innen unterschiedlichen Disziplinen zusammen. In den letzten 20 Jahren sind unter dem Label Matthaei & Konsorten fast 50 unterschiedliche Arbeiten entstanden, die von Performances, Tanz, Installationen bis hin zu Sound Art reichen. Bespielt werden dabei vor allem städtische Räume abseits institutionalisierter Bühnen. Bei dem Projekt »Plänterworld 2« wurden 2019 in Ko-Autorenschaft mit Menschen mit körperlichen oder geistigen Besonderheiten Vergnügungspark-Attraktionen gebaut. In Frage gestellt wurde dabei die Prämisse, dass »normal« funktionsfähige Körper der Maßstab für Unterhaltungs- und Vergnügungsangebote sind.

Neu sei bei der »Sumpfgeborenen«, dass das Projekt in mehreren Phasen ablief, erzählt Matthaei. »Erst guckt man sich den Sumpf da draußen an und ist dann auf der trockenen Wiese des Theaters.« Anders als geplant, wird das Ganze nun ohne Publikum vor Ort stattfinden. Die Installation »zwischen Filmset & Surround-Theater« mit Anklängen an die morastigen Abgründe der Stadt kann man sich statt im Theater im gemütlich-trockenen Wohnzimmer angucken.

Premiere am 27. März um 19 Uhr, durchgängig online bis 10. April auf: www.dringeblieben.de Anmeldung und Infos: http://sophiensaele.com

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