Fabrik der Zukunft nimmt langsam Gestalt an

Fast zehn Jahre nach dem Masterplan »Industrie 4.0« sind Digitalisierung, Roboter und 3D-Drucker Alltag. Einige Illusionen sind geplatzt

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese Diagnose ist nicht neu: Die industrielle Güterproduktion in reichen Ländern gilt seit den 1970er Jahren als Auslaufmodell. Was an Herstellung nicht in Regionen mit günstigeren Lohnkosten verlagert wird, wird stückweise automatisiert, bis sich in reichen Industrieländern »postindustrielle« Gesellschaften herausbilden. Timur Ergen, Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, hält diese Darstellung für eine »Erzählung«, die zu wünschen übrig lässt, wenn man genauer hinschaut. Wohin gehört etwa, fragt Ergen, die Buchhaltung eines Turbinenherstellers? In der Statistik taucht sie unter »Dienstleistungen« auf und überzeichnet deren Bedeutung.

Solche Überlegungen nehmen die Macher der derzeit laufenden Industriemesse in Hannover gerne zur Kenntnis. Unter dem Leitthema »Industrielle Transformation« präsentieren virtuell 1250 Aussteller und Vordenker ihre Technologien für Fabriken der Zukunft. Und das vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie, die die Verletzlichkeit globaler Lieferketten überdeutlich gezeigt habe, wie Aussteller klagen. Viele Firmen versuchen nun, sich unabhängiger von einzelnen Zulieferern zu machen, die Abhängigkeit von Vorprodukten aus Asien zu verringern und den Anteil an Eigenfertigung in Europa zu erhöhen. So ist zurzeit ein Dutzend Unternehmen dabei, hierzulande eine Produktion von OP- und FFP2-Masken aufzubauen. Mit finanzieller Unterstützung der Bundesregierung soll zukünftig im Jahr eine Milliarde Stück wieder in Deutschland hergestellt werden.

Corona hat auch den Trend zu dezentraler Produktion verstärkt. So hat das deutsche Biotechunternehmen Curevac den Prototyp eines Impfstoffdruckers gebaut. »Der Printer ist eine kleine, mobile und somit flexible Einheit«, sagt Firmengründer Florian von der Mülbe. »Es ist ein Produktionsprozess im kleinen Maßstab, dezentral und automatisiert.« Die Minifabrik soll dort eingesetzt werden, wo sie gebraucht wird und irgendwann vielleicht sogar direkt im Krankenhaus den benötigten Impfstoff produzieren.

Allerdings warnt Gunther Kegel, Präsident des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI), vor falschen Erwartungen an »Industrie 4.0«. Seit der Begriff auf der Hannover-Messe 2013 durch einen Forschungsbericht der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) international hoffähig wurde, sind einige Illusionen geplatzt.

Das gilt etwa für die versprochene Maßanfertigung in der industriellen Produktion. Der Sportartikelhersteller Adidas baute seinerzeit drei Fabriken auf, in denen sich per additiver Fertigungsverfahren, also 3D-Druck, ein Schuh ganz individuell nach den Vorgaben des Kunden in kürzester Zeit herstellen ließ. Doch die jugendliche Kundschaft verweigerte sich, sie wollte das »Original« ihrer Stars tragen. Die Fabriken sind heute Geschichte.

Der Masterplan von Acatech wird zum Teil und gemächlich umgesetzt. Die Digitalisierung der Produktion sei ein »evolutionärer Prozess«, mahnt ZVEI-Präsident Kegel. Dazu gehöre auch der langsam zunehmende Einsatz von Fertigungsrobotern, von Künstlicher Intelligenz und 3D-Druckern. Evolutionär entwickelt sich auch der zweite Megatrend in der Industrie, die Elektrifizierung. Strom, möglichst aus erneuerbaren Quellen, ersetzt Öl, Kohle und Gas als wichtigsten Energieträger der Industrie. »Wenn man sich nun umdreht und schaut, was sich alles so getan hat, dann wird man feststellen, dass die Geschwindigkeit hier rasant ist.«

Den individuellen Ansatz in der Fertigung, wie ihn Adidas versuchte, hält Kegel für einen Irrweg, dem weite Teile der Industrie nicht mehr folgen. Doch auch die Massenfertigung schafft kundenspezifische Produkte, durch Modul- und Baukastensysteme. Hier ist die Fabrik der Zukunft bereits Gegenwart. Eine rasante Entwicklung sieht Kegel ebenfalls bei der Umstellung der Prozesse von analog auf digital. Wer jedoch meinte, die Umstellung würde im Gleichschritt mit der Digitalisierung in Bürobereichen und Logistik erfolgen, habe keine Ahnung, was Industrie eigentlich sei. In der gehe es um reale Anlagen, Maschinen und physische Prozesse. Beispielsweise leiden »digitale Zwillinge«, in denen die Arbeitsprozesse einer Fabrik im Computer nachgebildet werden, notorisch unter unvollständigen Daten. Nicht alles lasse sich einfach mit Einsen und Nullen nachbilden.

»Industrie 4.0« bringt offenbar weniger tiefgreifende Veränderung als gedacht. Dennoch gilt er selbst in China als Top-Marke wie »Made in Germany«, ist auf der Hannover-Messe zu hören. Auch deshalb sehen sich die Firmen im ZVEI und auch im Maschinenbauverband VDMA im globalen Wettbewerb um die Fabrik der Zukunft gut aufgestellt.

Trotzdem versucht der Chef des Indus-trieverbandes BDI, Siegfried Russwurm, den Messerummel zu nutzen, um wieder mal nach mehr staatlicher Förderung zu rufen. Er verlangt den zügigen Ausbau der landesweiten Datennetze, Stichwort 5G und 6G, eine Bildungsoffensive und die Digitalisierung der Bürokratie. Selbst kleine Firmen, so Russwurm, hätten 130 Behördenkontakte pro Jahr. Wohl wie in den 1970er Jahren.

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