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Rache für die Niederlage bei Kobane

In der Türkei begann ein Mammutprozess gegen 108 HDP-Unterstützer*innen - Verteidiger*innen kritisieren politische Motivation

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Montag begann im Gefängnis von Sincan vor den Toren Ankaras gegen 108 Mitglieder der linksoppositionellen Partei der Demokratie der Völker (HDP) ein regelrechtes Mammutverfahren. Unter den Angeklagten befinden sich unter anderem die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Partei, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Ihnen drohen nun schwere Haftstrafen, die Anklage fordert alleine 38 Mal erschwert lebenslänglich, also Haft bis in den Tod.

Den Angeklagten wird vorgeworfen, für Proteste verantwortlich zu sein, die Anfang Oktober 2014 die Türkei schwer erschütterten. Anlass war die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegenüber der vom »Islamischen Staat« (IS) eingeschlossenen Stadt Kobane. Vor allem die Milizen YPG und YPJ der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, auch bekannt als Rojava, verteidigten die direkt an der Grenze gelegene Stadt. Damals befand sich der IS auf dem Höhepunkt seiner Macht. Unter den mehrheitlich kurdischen Kämpfer*innen waren neben den syrischen Kurd*innen auch viele junge Helfer*innen aus der Türkei. Wäre die Grenzstadt gefallen, wäre ein Massaker sicher gewesen - insbesondere unter den weiblichen Kämpferinnen.

Trotz internationalem Druck blockierte die Türkei jegliche Unterstützung für Kobane. Der Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sagte: »Wir werden tun, was immer wir können, damit Kobane nicht fällt.« Ein paar alte Panzer wurden an der Grenze aufgestellt. Mehr geschah aber nicht und Erdoğan verabschiedete sich ins Wochenende mit der Erklärung, Kobane sei ohnehin bereits gefallen. Diese Worte waren der Auslöser für die Massenproteste, bei denen 43 Menschen starben. Die meisten Toten waren Unterstützer*innen der HDP, die von den Sicherheitskräften oder türkischen Islamisten getötet wurden. Dennoch macht die Staatsanwaltschaft nun die Angeklagten für ihren Tod verantwortlich und beschuldigt sie wegen Mordes und Terrorismus.

Die Proteste trugen letztlich dazu bei, dass sich die türkische Regierung etwas von ihrer Blockadepolitik wegbewegte. Dazu ließ der damalige US-Präsident Barack Obama Waffen über Kobane abwerfen. Mit der neuen Unterstützung hielten die Verteidiger*innen entgegen Erdoğans Einschätzung durch. In Kobane erlebte der IS sein »Stalingrad«. Aufgrund der Demonstrationen gab es rasch Untersuchungen gegen kurdische Politiker*innen. Diese versandeten, tauchten dann aber vergangenes Jahr wieder auf, obwohl keine neuen Erkenntnisse vorlagen.

Einer der Gründe für das wiedererwachte Interesse an den Vorgängen im Oktober 2014 dürfte das Tauziehen um den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş sein. Der rhetorisch begabte Anwalt war zweimal als Gegenkandidat gegen Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl angetreten, das zweite Mal bereits aus dem Gefängnis heraus. Demirtaş wurde im Jahr 2016 dann wegen »Terrorpropaganda« in Untersuchungshaft genommen. Ende November 2018 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGM) in Straßburg, dass Demirtaş sofort aus der U-Haft zu entlassen sei, seine Inhaftierung stelle einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Doch die Türkei hatte vorgesorgt und die Verhandlung eines Punktes vorgezogen. Dieses Urteil wurde zwei Wochen nach dem Urteil aus Straßburg bestätigt, womit Demirtaş vom Untersuchungshäftling zum Strafgefangenen wechselte.

Ende Dezember 2020 urteilte der EuGM erneut, dass Demirtaş freizulassen sei, und sprach ihm eine Entschädigung von 60 400 Euro zu. Ein solches Urteil konnte für die Türkei kaum eine Überraschung sein. Im November begannen zahlreiche Festnahmen im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten. Etwa drei Wochen nach der neuerlichen Entscheidung von Straßburg nahm das türkische Gericht die jetzige Anklage an.

Der Prozess begann am Montag gleich mit einer Provokation des Gerichtes gegen die Verteidigung. Zahlreiche Verteidiger*innen der Angeklagten wurden nicht ins Gericht gelassen, weil es angeblich zu wenig Platz dort gebe. Als eingelassene Verteidiger*innen dagegen protestierten, drohte der Vorsitzende mit Saalverweis. Nachdem das Gericht seine Position weiterhin nicht veränderte, verließen auch die im Saal anwesenden Verteiger*innen unter Protest den Saal.

In einer Erklärung, die er trotz verschiedener Versuche der Polizei, ihn daran zu hindern, vor dem Gericht abgab, bezeichnete der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, das Verfahren als eine Rache für Kobane: »Dieser Prozess ist das Produkt einer Regierung, die die Niederlage des IS bei Kobane nicht verwunden hat.« Hinzuzufügen wäre nur, dass auch der Westen längst vergessen hat, was er den Kurd*innen in Kobane zu verdanken hat.

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