Nato-Großmanöver in Osteuropa

»Defender-Europe 2021« ist die umfangreichste Übung der Nato seit Ende des Kalten Krieges

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.

Erst dröhnten die Turbinen von 20 Transportflugzeugen durch die pechschwarze Nacht, dann stürzten sich Soldaten samt Ausrüstung und Technik an Fallschirmen in die Tiefe: Die Luftlandeaktion, die 800 amerikanische und britische Fallschirmjäger am vergangenen Samstag auf dem estnischen Militärflugplatz Nurmsi durchführten, sollte möglichst nah an reale Gefechtsbedingungen herankommen. 25 Hubschrauber warteten mit laufenden Rotoren am Boden, unverzüglich wurden die gelandeten Einheiten zu einer gemeinsamen Übung mit der estnischen Armee weiterverlegt. Das Ziel: die gemeinsame Verteidigung des baltischen Staates in einer militärischen Krisensituation.

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Die Luftlandeübung in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze ist die nördlichste Teiloperation von »Defender-Europe 2021« - dem größten Nato-Manöver in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges. Dabei üben 28 000 Soldaten aus 26 Staaten über die Dauer von zwei Monaten die Verteidigung der Nato an ihrer Ostflanke. 3000 US-Soldaten wurden dafür eigens nach Europa verlegt. Mit dabei sind auch 430 deutsche Soldaten, ergab Anfang des Jahres eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel (Die Linke). Bis zum offiziellen Abschluss des Großmanövers Mitte Juni trainieren die US-Amerikaner mit ihren europäischen Verbündeten auf 30 Übungsplätzen in zwölf Mitgliedstaaten. Auftakt war in der vergangenen Woche eine riesige Landeübung mit rund 1000 US-Militärfahrzeugen in der albanischen Hafenstadt Durrës. Eine Operation dieses Ausmaßes sei seit den 1940er Jahren nicht mehr geprobt worden, erklärte der Nato-Oberbefehlshaber, US-General Tod Wolters.

Im Gegensatz zu früheren Nato-Manövern liegt der lokale Schwerpunkt nicht im Osten oder Nordosten Europas - sondern im Südosten des Kontinents, dem Westbalkan und dem Schwarzen Meer. In der Region treffen russische und westliche Interessen zunehmend aufeinander.

Geprobt wird vor allem das schnelle und koordinierte Verlegen massiver Truppenverbände über größere Distanzen in Europa. Dies haben viele Nato-Länder seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr trainiert. Entsprechend aus der Übung sind viele Armeen beim raschen Transport von Militärtechnik und Soldaten über Schienen, Straßen und sonstige Landverbindungen. Aus Nato-Sicht fehlt es im Ernstfall an einer eingespielten Routine.

Offiziell trägt »Defender-Europe 2021« defensiven Charakter. Man trainiere die Reaktion auf einen möglichen Krisenfall, ist in der offiziellen Pressemappe der Übung zu lesen. Und doch ist Defender eine Demonstration der Stärke an die Adresse Russlands, welche auch die osteuropäischen Bündnispartner beruhigen soll. Die Nato demonstriere ihre »Fähigkeit, als strategischer Sicherheitspartner auf dem westlichen Balkan und in der Schwarzmeerregion zu dienen und gleichzeitig unsere Fähigkeiten in Nordeuropa, dem Kaukasus, der Ukraine und Afrika zu erhalten«, heißt es in dem Dokument.

In Russland treffen diese Versicherungen auf großes Misstrauen. Eine verstärkte Nato-Präsenz in Europa erhöhe die Bedrohungslage, warnte Verteidigungsminister Sergej Schoigu auf einer Sitzung des von Moskau geführten Verteidigungsbündnisses »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit« (ODKB) Ende April. Man verfolge die Truppenverlegungen und die Nato-Aktivitäten daher mit Aufmerksamkeit. Wesentlich deutlicher wurde am Wochenende Wladimir Dschabarow, welcher von Heuchelei sprach und vor allem das Teilmanöver in Estland als Provokation bezeichnete. »Wenn wir Truppen auf unserem Territorium verlegen, wird das als Bedrohung für alle Länder angesehen«, zürnte der Vizevorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Föderationsrates gegenüber der »Iswestija«, »aber wenn sie ein Kontingent nach Estland schicken, ist das die Norm.« Der unabhängige Militärexperte Alexander Jermakow warnte vor einer Rückkehr der großen Nato-Manöver aus der Zeit des Kalten Krieges. Die Übung aus der Defender-Serie, welche bereits im vergangenen Jahr zum ersten Mal stattfand, habe Ähnlichkeit mit der Großübung »Reforger«, mit der die Nato und ihre europäischen Verbündeten zwischen 1969 und 1993 jährlich die Anfangsphase eines Krieges mit der Sowjetunion durchspielten.

Zur Anspannung trägt auch die nach wie vor brenzlige Lage an der russisch-ukrainischen Grenze bei. Denn »Defender-Europe 2021« findet vor dem Hintergrund einer weiterhin großen russischen Truppenpräsenz an der Trennlinie zwischen beiden Ländern statt. Moskau lässt sich mit seinem Ende April angekündigten Truppenabzug Zeit. Dies legen Nachrichten aus Kiew, Washington und Brüssel nahe. So schätzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken in der vergangenen Woche die Zahl der verbleibenden russischen Truppen auf rund 75 000 Mann ein. Die US-Regierung geht von 80 000 aus. Demnach hätte Moskau erst zehn Prozent seiner Truppen abgezogen. Washington fasse die hohe Truppenpräsenz als Drohgeste auf, berichtete die »New York Times«. Der Kreml signalisiere auf diese Weise, dass er mit der Zahl der in Osteuropa zusammengezogenen Nato-Truppen locker mithalten und diese bei Bedarf auch übertreffen könne.

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