Was ist, wenn sie ein Mädchen bekommt?

Berlinale Encounters: In »As I Want« dokumentiert die ägyptische Regisseurin Samaher Alqadi alltägliche Belästigungen von Frauen auf der Straße

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit der Hand streichelt Samaher Alqadi ihren Bauch, der immer größer wird. Sie singt: »Wenn sie sagen, dass es ein Junge wird, fühle ich mich stark.« Ein Lied, dass ihre Mutter früher gesungen habe, sagt die Regisseurin. In ihrem essayistischen Film »As I Want« tritt sie in ein Gespräch mit ihrer abwesenden Mutter, aber auch mit sich selbst, den eigenen Ängsten, Zweifeln und der eigenen Geschichte. »Du hast immer gesagt, ein Mädchen zu gebären, würde lebenslange Sorgen bedeuten«, sagt Alqadi in ihrem inneren Monolog.

Die Filmemacherin wuchs in einem palästinensischen Flüchtlingslager nahe Ramallah auf und hat später am Higher Institute of Cinema in Kairo studiert. In ihrem ersten Langfilm verwebt sie verschiedene Ebenen: die politischen Proteste in Ägypten, den Kampf von Frauen gegen sexuelle Gewalt, den gesellschaftlich tief verankerten Sexismus und die Reflexion über die eigene Familiengeschichte und ihre Rolle als Mutter. Was ist, wenn sie ein Mädchen bekommt? Muss ihre Tochter dann ein Leben lang sexuelle Belästigungen erfahren - so wie es für Frauen in Ägypten Alltag ist?

Diese Fragen beschäftigen Samaher Alqadi, die gerade schwanger ist, als es in Kairo zum zweiten Jahrestag der Revolution zu besonders schlimmen sexuellen Übergriffen kommt. Die Regisseurin sieht sich mit anderen Frauen Filmaufnahmen von diesem Tag an: Männer umringen Frauen, reißen ihnen Kleider vom Körper, begrapschen sie, fassen zwischen ihre Beine und verletzen sie mit ihren Fingern und scharfen Gegenständen. Eine junge Frau berichtet, wie sie versuchte, eines der Opfer zu schützen, und einen Krankenwagen rief.

Die Protagonist*innen in »As I Want« sind Frauen. Der Film zeigt, wie sie debattieren, sich organisieren und laut, wütend und scharfe Messer in die Luft reckend demonstrieren. Auch Samaher Alqadi geht mit ihnen auf die Straße. Sie benutze ihre Kamera als Waffe, erzählt die Regisseurin, die filmt und filmt. So dokumentiert sie alltägliche Belästigungen von Frauen auf der Straße. Männer, die sie ansprechen, verfolgen, bedrohen.

Sie spricht mit Passant*innen und mit Kindern. »Eine Frau ist wie ein Diamant. Ihr Platz ist zu Hause«, sagt ein Mann. Ein Mädchen auf dem Sprung ins Jugendalter erzählt, Männer würden sich scheiden lassen, wenn eine Frau in der Öffentlichkeit zu laut ist. »Der Körper einer Frau ist schambehaftet«, sagt eine ihrer Freundinnen.

So beobachtet und reflektiert Samaher Alqadi die Problemlage auf verschiedenen Ebenen: einerseits der gesellschaftlich zementierte Sexismus, andererseits die krassen und zuweilen lebensbedrohlichen Übergriffe auf Frauen. Die Aktivistinnen spekulieren: Sind die Übergriffe organisiert und politisch motiviert? Dafür gibt es Anzeichen. Soll Frauen, die in der Revolution eine zentrale Rolle gespielt haben, Angst gemacht werden?

Durch die Verknüpfung der subjektiven Erzählebene mit den politischen und gesellschaftlichen Strukturen präsentiert »As I Want« ein vielschichtiges Bild der inneren und äußeren Befreiungsbewegung, in denen sich die Frauen engagieren. Alqadi dokumentiert ihren Kampf, den man als Zuschauer*in staunend und erschüttert beobachtet. Es ist ein Kampf, der an allen Fronten stattfindet, auch in der eigenen Familie. Der Film zeigt, wie Alqadis Sohn langsam älter wird und wie der Aktivismus weitergeht. Wie wird die Mutter dem Kleinen beibringen, Frauen zu respektieren? Wird es irgendwann Gleichberechtigung geben? Das sind Fragen, die nicht nur in Ägypten eine Rolle spielen.

Die Regisseurin setzt ihr Gespräch mit der eigenen Mutter fort, die starb, bevor Samaher Alqadi sie ein letztes Mal besuchen konnte. »Du warst 16, als du verheiratet wurdest«, sagt die Tochter und fragt sich, warum die Mutter eingesperrt war und ein Leben lang dominiert wurde. Eine Antwort liefert »As I Want« nicht. Dafür vielleicht die Hoffnung, dass es anders werden könnte? Die Aktivistinnen zumindest glauben, dass sie etwas erreichen können. »Wenn Frauen sie ändern, wird sich die Gesellschaft ändern«, sagt eine von ihnen.

»As I Want«: Ägypten/Frankreich/ Norwegen/ Palästina/Deutschland 2021. Regie und Buch: Samaher Alqadi. Termin: 16.6., 22.15 Uhr, Arte-Sommerkino Kulturforum.

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