Fünf Jahre erzwungen arbeitslos

Wegen des Radikalenerlasses wurde Irmgard Cipa jahrelang die Anstellung als Lehrerin verweigert - bis heute kämpft sie für eine Rehabilitierung

  • Ebba Hagenberg-Miliu, epd
  • Lesedauer: 4 Min.

Bonn. Die pensionierte Bonner Lehrerin Irmgard Cipa hat zwei Aktenordner vor sich stehen. »Bis heute habe ich es nicht ertragen, diese Papiere noch einmal zu lesen«, sagt sie. Dass sie ab 1976 unter den damaligen »Radikalenerlass« fiel, dass sie fünf Jahre unter dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit stand und nicht als Lehrerin anfangen durfte, das tue immer noch weh, sagt die 74-Jährige. Die Pensionärin, die als Studentin Mitglied einer marxistischen Hochschulgruppe war, fühlt sich zu Unrecht angeprangert: »Das Unrecht des Berufsverbots habe ich bis heute nicht verwunden.«

Am 18. Februar 1972, vor fast 50 Jahren, beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz unter Kanzler Willy Brandt (SPD) die Überprüfung von Bewerbern und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue. Der »Erlass zur Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst« betraf die Einstellung und Tätigkeit von links- oder rechtsradikalen Menschen.

Rund 3,5 Millionen Bürger wurden auf ihre politische Gesinnung durchleuchtet, auch Angestellte der noch staatlichen Post und Bahn. Dies wurde in den meisten Bundesländern bis Mitte der 80er Jahre so gehandhabt. Es liefen 11.000 Berufsverbots- und 2.200 Disziplinarverfahren gegen Lehrer, aber auch gegen Postboten und Lokführer. Schließlich wurden 1.250 Bewerbungen abgelehnt und 265 Menschen entlassen.

Cipa hatte auf dem zweiten Bildungsweg studiert, wollte Lehrerin werden. Politisch sei sie von ihrer Mutter geprägt: »Die war gegen die Nazis und den Krieg.« Die Tochter fand zu einer marxistischen Hochschulgruppe. Nach dem Examen unterzog sie der Verfassungsschutz einer Sicherheitsprüfung gemäß den »Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«. Cipa musste zur Anhörung nach Köln. »Die war so gruselig, dass ich danach einen Anwalt mitgenommen habe.«

Von dem Erlass waren auch viele Prominente betroffen, etwa die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann (Grüne) und der Schriftsteller Peter Schneider. Schneider urteilte später, der Erlass habe erst die Staatsfeinde geschaffen, gegen die er schützen sollte. Kretschmann hingegen kritisierte im Nachhinein nicht den Erlass, sondern sein einstiges Engagement in einer maoistischen Gruppe.

Der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum zeigte in einem epd-Gespräch Verständnis für den Beschluss, und zwar »vor dem Hintergrund der Zerstörung der Weimarer Republik und der beileibe ja nicht gesicherten demokratischen Stabilität der Bundesrepublik«. Dazu sei »die Unruhe im Gefolge von 68« und schließlich das Wagnis der neuen Ostpolitik gekommen.

»Die Demokratie muss vor ihren Feinden geschützt werden«, betont Wolfrum. Allerdings habe das Ganze vor 50 Jahren zur politischen Polarisierung in der Bundesrepublik, ja zu einer Art Kulturkampf zwischen der amtierenden sozialliberalen Regierung und der konservativen Opposition geführt. »Nicht zu vergessen: das Erstarken der NPD. Das spitzte alles zu.« Die konservativ regierten Bundesländer hätten den Beschluss besonders radikal ausgeführt - und fast ausschließlich gegen Links angewendet.

»Das Problematische war die Regelanfrage. Eine ganze Generation junger Menschen wurde unter Generalverdacht gestellt«, sagt Wolfrum. Dass jedoch Einzelfallprüfungen nötig seien, stehe für ihn außer Frage, »gerade heute, wo die Bedrohung der Demokratie von rechtsextremer Seite kommt.«

Wolfrum leitet aktuell das Heidelberger Forschungsprojekt »Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, '68 und der Radikalenerlass«, das dessen Folgen für das Bundesland unter die Lupe nimmt. Auf einer Tagung dieses Projekts in Heidelberg erinnerte der Konstanzer Historiker Nikolai Wehrs im vergangenen Jahr an die Sorgen der damaligen Zivilgesellschaft vor einer kommunistischen Infiltration und einem von Rudi Dutschke angekündigten »Marsch durch die Institutionen« der 68er-Bewegung.

1995 bewertete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die damalige bundesdeutsche Berufsverbotspraxis in einem Urteil als Verstoß gegen die europäische Konvention für Grund- und Menschenrechte. Die Bonnerin Irmgard Cipa hat jedenfalls ihre acht Anhörungen nicht vergessen. »Das verstehe ich bis heute nicht: Es ging darin nie um meine Einstellung zur Verfassung«, berichtet sie. Themen seien nur ihre marxistische Studentengruppe, zwei DDR-Reisen und »die Teilnahme an Zusammenkünften von DKP-Mitgliedern« gewesen.

Schließlich kam die Ablehnung für den Lehrberuf. Arbeitslosigkeit und Kurzzeitjobs folgten. »In den fünf Jahren habe ich gelernt, was man alles aus Kartoffeln kochen kann«, sagt Cipa. Es sei »eine finstere Zeit« gewesen.

1981 habe sie dann doch als angestellte Lehrerin beginnen können, wurde verbeamtet und arbeitete sich bis zur Konrektorin hoch. Danach stieg sie für die Partei »Die Linke« in die Bonner Lokalpolitik ein. Heute kämpfe sie mit anderen Betroffenen für eine Wiedergutmachung, berichtet Cipa. Ihr selbst gehe es gut, sagt die Bonnerin. Aber sie wisse von anderen, die durch die damals verlorenen Jahre in die Altersarmut gerutscht seien. Sie selbst wünscht sich eine Rehabilitierung.

Auch der Journalist und Jurist Heribert Prantl spricht sich dafür aus, noch mal neu auf die damalige Zeit zu blicken. Der Staat würde sich keinen Zacken aus der Krone brechen, schrieb er Anfang des Jahres in der »Süddeutschen Zeitung«, »wenn er erklärt, dass die millionenfachen, generalmisstrauischen Überprüfungen der Siebziger- und Achtzigerjahre falsch waren«, und wenn er »in geeigneten Fällen Schadenersatz leistet«. epd/nd

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