Als der schreckliche Krieg heimkam

Zur 1945 bei Halbe geführten Schlacht zwischen Wehrmacht und Roter Armee gibt es neue Erkenntnisse

  • Tomas Morgenstern
  • Lesedauer: 5 Min.

»Die Straßen von Halbe - besonders bei der Möbelfabrik und am Bahnübergang -, und die Häuser lagen voller Leichen und Leichenteile«, erinnert sich der damals 15-jährige Harry Schäffer, der sich freiwillig zu den von der Roten Armee veranlassten »Aufräumungs- und Beerdigungsarbeiten« gemeldet hatte. Es herrschte akute Seuchengefahr, und überall lag hochexplosive Munition herum. »In Märkisch Buchholz war die gesamte Innenstadt zerstört, und zwischen den Ruinen zerschossenes Kriegsmaterial und die sterblichen Überreste von Menschen und Tieren. Zwischen zerstörten Fahrzeugen, Panzern, Kanonen und verendeten Pferden lagen tote Soldaten, Offiziere, Männer, Frauen und Kinder der Einwohner des Einschließungsgebietes und der damit eingeschlossenen Flüchtlingstrecks aus dem Odergebiet.«

Ende April 1945 hatten sich sowjetische und deutsche Truppen südöstlich von Berlin eine erbarmungslose Schlacht geliefert. Im Raum um die Kleinstädte Märkisch Buchholz und Teupitz sowie die Ortschaft Halbe waren abgekämpfte Wehrmachts-, SS- und Volkssturmeinheiten, nachdem sie im Zuge der letzten großen Angriffsoperationen der Roten Armee aus ihren Verteidigungsstellungen an Oder und Neiße geworfen worden waren, eingeschlossen und zerschlagen worden. Man schätzt, dass auf deutscher Seite von bis zu 150 000 Eingekesselten 30 000 Soldaten den Tod fanden und zudem viele Tausend schutzlose Zivilisten - Einheimische, Flüchtlinge und Zwangsarbeiter - starben. Auch die Rote Armee erlitt schreckliche Verluste, von 20 000 Gefallenen ist die Rede. Nun war Frieden, doch in jenem sommerlich heißen Mai 1945 schien der Schrecken in den Wäldern südöstlich von Berlin kein Ende zu nehmen. Unerträglicher Verwesungsgestank lag über den Schauplätzen der Kämpfe.

Die Schilderung der apokalyptischen Zustände, die Augenzeugen festgehalten haben, finden sich in einem bemerkenswerten Sachbuch. Unter dem Titel »Der Kessel von Halbe - Von Oder und Neiße bis zur Elbe« ist es im Dezember 2020 im Aachener Helios-Verlag erschienen. Verfasser sind die Militärexperten Gerd-Ulrich Herrmann und Uwe Klar. Herrmann leitete von 2002 bis 2015 die Gedenkstätte Seelower Höhen im Landkreis Märkisch-Oderland. Mit der neuen Publikation setzen beide Autoren die Reihe ihrer Darstellungen der Kämpfe an der deutsch-sowjetischen Front östlich von Berlin im Winter und Frühjahr 1945 fort.

Zunächst ist der mit vielen, zum Teil erstmals veröffentlichten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, grafischen und tabellarischen Übersichten sowie einem umfangreichen Anhang ausgestattete Band eine profunde militärhistorische Abhandlung. Das ist nicht verwunderlich: Beide Autoren dienten als Offiziere in der Nationalen Volksarmee der DDR und waren Absolventen von Militärakademien.

Ortskundigen Einheimischen und Besuchern der Region ermöglicht der Band aber auch einen beklemmenden Einblick in die gar nicht allzu ferne Vergangenheit dieses heute so beschaulichen Landstrichs. Die erschütternden Erinnerungen der damaligen Teilnehmer an dem Geschehen lassen konkrete Schauplätze in Heimatorten sichtbar werden, die inzwischen von friedlicher Arbeit geprägt sind, in einer gerade in der Ferienzeit von Erholungssuchenden bevölkerten Landschaft. Es ist eine der Stärken des Buches, dass es anhand persönlicher Schicksale vor Augen führt, wie wenig selbstverständlich der Frieden vor der eigenen Haustür ist.

»Obwohl die Ereignisse um Halbe den Ausgang des Krieges auf deutschem Territorium und damit die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht mitprägten, stehen sie im Schatten der ›Schlacht um die Seelower Höhen‹ und der Kämpfe in Berlin«, heißt es im Klappentext des 292 Seiten umfassenden Bandes. »Die Einschließung von Teilen der 9. Armee und des V. Armeekorps der 4. Panzerarmee im ›Kessel von Halbe‹ war nicht nur das Ergebnis der überlegen geführten Angriffsoperationen der 1. Weißrussischen Front und der 1. Ukrainischen Front, sondern auch mehrerer politischer und militärischer Entscheidungen.«

Dank der Auswertung bislang kaum erschlossener Quellen wie sowjetischer Gefechtsjournale, Anordnungen und Auswerteberichte, gerade aus russischen Archiven, gelingt es Herrmann und Klar, die bedeutsamen militärischen Handlungen der Kriegsgegner in der Endphase der Schlacht um Berlin in einem neuen Licht zu betrachten. Das betrifft auch die zwei wichtigsten sowjetischen Heerführer, die mit den ihnen unterstellten Einheiten Mitte April die Schlussoffensive zur Befreiung der deutschen Gebiete zwischen Oder und Elbe sowie zur Eroberung der damaligen Reichshauptstadt Berlin führten: die Marschälle Georgi Konstantinowitsch Schukow und Iwan Stepanowitsch Konew.

Es gelingt, den Entscheidungen und Fehlentscheidungen der militärischen Führer nachzuspüren, die mitunter auch zu vermeidbaren eigenen Verlusten führten, und diese aufgrund der neuen Quellenlage einzuordnen - ohne die von der Roten Armee vollbrachten gewaltigen militärischen Leistungen bei der Zerschlagung der faschistischen Streitkräfte zu schmälern. Und ohne die verbrecherische Kriegsführung von Wehrmacht und SS zu leugnen, die angesichts der unabwendbaren Niederlage noch Zehntausende der eigenen Soldaten und ihnen anvertraute Zivilisten in den sicheren Tod trieb. All dies zeichnet diesen Band gegenüber den bisherigen Publikationen aus, die sich mit der Schlacht von Halbe beschäftigen.

»Nach wie vor sind die Ereignisse im April und Mai 1945 südlich von Berlin mit zahlreichen Mythen umgeben, die noch heute zu einem verzerrten Geschichtsbild führen«, schreibt Gerd-Ulrich Herrmann dem »nd«. »Die aus den 1950er Jahren stammenden Äußerungen der Generale Wenck und Busse von einer bewussten Nichtbefolgung der Befehle Hitlers und die in der Chruschtschow-Ära entstandene Legende des angeblich von Stalin inszenierten Wettlaufs zwischen Schukow und Konew halten keiner quellenkritischen Betrachtung stand.« Durch die erstmals erfolgte Auswertung der sowjetischen Gefechtsdokumente habe man so auch die fatalen Folgen des von Konew eigenmächtig befohlenen Einschwenkens seiner beiden Gardearmeen auf Berlin für seine unterstellten Truppen dargestellt.

»Angesichts des sinnlosen Sterbens von Tausenden Soldaten vieler Nationen und von einer nicht bekannten Anzahl von schutzlosen Zivilisten erinnert Halbe an die verheerenden Folgen einer menschenverachtenden Politik, zu einer Zeit, als der Untergang des nationalsozialistischen Regimes längst besiegelt war«, erklärt Herrmann.

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