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Ein krankes System

Woher die »Kostenexplosion« im Pflegesektor wirklich kommt und wie ihr zu begegnen wäre

  • Lena Böllinger
  • Lesedauer: 5 Min.

Immer mehr Menschen sind auf Pflege im Alter angewiesen oder werden sie früher oder später benötigen. Gleichzeitig sind ihre finanziellen Mittel oft beschränkt. Auf der anderen Seite sollen schlecht bezahlte Pflegekräfte mehr verdienen und die Leistungen der Pflege verbessert werden. Oft wird so getan, als sei das eine nicht mit dem anderen vereinbar. Pflegende und Gepflegte werden dann künstlich gegeneinander aufgebracht mit dem Argument, gute Pflege für alle sei letztlich nicht finanzierbar.

Auch im Zuge der jüngsten Meldungen über kleine Verbesserungen in der Pflegearbeit konnte das wieder beobachtet werden. Zum einen wurde eine Pflegereform verabschiedet, die unter anderem für eine bessere Bezahlung von Pflegekräften sorgen soll. Ob sie das gewährleisten kann, ist umstritten. Zum anderen urteilte das Bundesarbeitsgericht, dass auch ausländische Pflegekräfte Anspruch auf Mindestlohn haben.

Das Sparprogramm

Bei ihrem Entwurf für eine Pflegereform hat die Regierungskoalition getrickst. Sie sie bedeute »de facto Leistungskürzungen«, bilanzierte der Sozialverband VdK bereits Anfang Juni. Der Bundestag hat die Änderungen dennoch beschlossen, auch der Bundesrat stimmte Ende Juni zu.

Tatsächlich sind nunmehr weniger Mittel für die Altenpflege vorgesehen als noch Ende vorigen Jahres von der Bundesregierung avisiert - trotz aller Beteuerungen, dass Pflegekräfte höher entlohnt und Pflegebedürftige entlastet werden sollen.

Laut Gesetz muss die Bundesregierung alle drei Jahre prüfen, ob die Leistungen, die die gesetzliche Pflegekasse übernimmt, angehoben werden. Im Dezember 2020 stellte die Bundesregierung dann fest: Da die Verbraucherpreise innerhalb von drei Jahren um knapp fünf Prozent gestiegen sind, erscheine es angemessen, dass die Leistungen der Pflegekassen um fünf Prozent erhöht werden. »Die Bundesregierung wird zeitnah über die Umsetzung der Dynamisierung entscheiden«, heißt es in dem Kurzbericht.

Doch nun hat Schwarz-Rot mit der Reform beschlossen, dass die Pflegepauschalen doch nicht generell erhöht werden - und damit nicht einmal der Preisanstieg von 2017 bis 2019 ausgeglichen wird. Lediglich für Sachleistungen in der ambulanten Pflege und für die Kurzzeitpflege soll es ein bisschen mehr Geld geben. Wegen des Verzichts auf eine generelle Anhebung der Leistungen sparen die Kassen laut Gesundheitsministerium jährlich 1,8 Milliarden Euro.

Die zusätzlichen Mittel, die mit der Reform bereitgestellt werden, gleichen dies nicht aus. So soll es ab dem kommenden Jahr einen Steuerzuschuss von jährlich einer Milliarde geben. Außerdem steigt der Pflegebeitrag von gesetzlich Versicherten, die keine Kinder haben, um 0,1 Prozentpunkte. Das bringt laut Bundesregierung rund 400 Millionen Euro Mehreinnahmen pro Jahr.

Das heißt unterm Strich: Es gibt einerseits 1,4 Milliarden Euro mehr und andererseits 1,8 Milliarden weniger als im Dezember 2000 vorgesehen.

Dabei war noch in diesem Frühjahr ein höherer Steuerzuschuss angedacht. »Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb im Verlauf der Verhandlungen die Gegenfinanzierung immer weiter gekürzt wurde«, bemängelte auch der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen (GKV) und ist sicher, dass die nächste Bundesregierung damit eine »Reformbaustelle gewaltigen Ausmaßes« erbt.

Das dürfte den politisch Beteiligten klar sein. Der Bundesrat hat jedenfalls in einer Entschließung schon mal weitere Reformschritte angemahnt. Es sei davon auszugehen, dass eine »weitergehende« Steuerfinanzierung zwingend notwendig bleibe. Eva Roth

Die Berichterstattung deutscher Tageszeitungen reagierte darauf mehrheitlich nicht mit Jubel, sondern mit außerordentlicher Skepsis. Vor einer »Kostenexplosion« im Pflegesektor wurde gewarnt und vor »unbezahlbarer Pflege«. Verschiedene Behauptungen zirkulierten dabei in unterschiedlichen Variationen: etwa dass gute Arbeitsbedingungen und Löhne in der Pflege letztlich dazu führten, dass sich kaum noch jemand die Pflege leisten könne. Oder umgekehrt: Die Pflege sei nur bezahlbar, solange die Löhne gering und das Personal begrenzt blieben. Oder auch: Wer im Alter professionell gepflegt werden wolle, müsse eigenverantwortlich und frühzeitig vorsorgen.

Was den vermeintlich alternativlosen und oft zynischen Binsenweisheiten gemein ist: Sie spielen die Pflegenden und Pflegebedürftigen gegeneinander aus und verlagern die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für ein würdevolles Leben und Sterben auf den Einzelnen. Das verschärft die verbreitete Angst vor Altersarmut und einem trostlosen Lebensende und befördert die ohnehin virulenten gesellschaftlichen Entsolidarisierungsprozesse. Dabei müsste eigentlich allen klar sein: Mit ein bisschen mehr Aufopferungsbereitschaft auf Seiten der Sorgenden und ein bisschen mehr privater Vorsorge auf Seiten der Sorgebedürftigen, ist es nicht getan. Der Fehler liegt im System.

Anders als oft behauptet liegt die Schwierigkeit der Finanzierung der Pflege nicht allein beim sogenannten demografischen Wandel, also dem Umstand, dass der Bevölkerungsanteil alter und potenziell pflegebedürftiger Menschen zunimmt. Ebenso wenig sind ein vermeintlicher Rückstand in der Digitalisierung der Pflege oder Misswirtschaft, schlechtes Management und ineffiziente Abläufe das Kernproblem. Die »Kostenexplosion« im Pflegesektor hängt vielmehr mit den strukturellen Veränderungen des Wirtschaftssystems zusammen.

Spätestens seit den 1970er Jahren zeichnet sich eine Verschiebung in der Erwerbsarbeit ab: In den westlichen Industrienationen steigt das Arbeitsvolumen im Gesundheits- und Sozialwesen im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen enorm. Immer mehr Menschen arbeiten im Bereich persönlicher Dienstleistungen, immer weniger im Bereich der Güterproduktion. Denn in der Industrie werden Arbeitsplätze entweder ins Ausland verlagert oder durch Maschinen ersetzt. Persönliche Dienstleistungen hingegen können nicht ins Ausland verlagert oder beliebig durch Roboter und »digitale Serviceleistungen« ausgeführt werden. Es braucht Menschen vor Ort, die für andere Menschen da sind - zumindest wenn man den Sinn und Zweck dieser Tätigkeiten nicht beschädigen oder ad absurdum führen will.

Seitdem Frauen zunehmend einer Erwerbsarbeit nachgehen, wächst der Markt für persönliche und haushaltsnahe Dienstleistungen zusätzlich, weil diese Tätigkeiten nicht mehr nahezu ausschließlich unbezahlt von Frauen in den Familien erbracht werden. Dass immer mehr Menschen im bezahlten Gesundheits- und Sozialwesen arbeiten, führt aber gerade nicht zu einer ökonomischen und symbolischen Aufwertung dieser Bereiche. Denn dieser Teil des Arbeitsmarktes hat mit einem Phänomen zu kämpfen, das der Ökonom William Baumol bereits 1967 als »Kostenkrankheit« bezeichnet hat. Während industrielle Güter durch Standortverlagerungen oder technische Rationalisierungen immer billiger produziert werden können, gilt das für den stetig wachsenden Markt persönlicher Dienstleistungen nicht. Im Gegenteil: Sie werden relativ immer teurer in Anbetracht der Rationalisierungsmöglichkeiten und Produktivitätssteigerungen in anderen Wirtschaftssektoren.

Die vermeintliche Kostenexplosion wird also nicht allein vom wachsenden Anteil älterer Menschen verursacht und schon gar nicht vom Anspruch der Pflegekräfte auf faire Bezahlung. Der Kern des Problems besteht darin, dass hier zwei unterschiedliche Ökonomien mit je eigenen Dynamiken aufeinandertreffen: die Güterökonomie und die Care-Ökonomie. Im Zusammenspiel beider hat die Care-Ökonomie aus den genannten strukturellen Gründen immer mit besagter »Kostenkrankheit« zu kämpfen. Im Bereich der Care-Ökonomie lässt sich schlecht flexibilisieren, dynamisieren, technisieren, rationalisieren. Schaut man mit der betriebswirtschaftlichen Management-Brille auf diesen ökonomischen Bereich, kann er nur träge, ineffizient und viel zu kostenintensiv wirken.

Bislang versuchte man dieser »Kostenkrankheit« vor allem zu begegnen, indem man den Pflegekräften in den Heimen schlechte Löhne zahlte, am Personal insgesamt sparte, Migrantinnen als nahezu rechtlose 24-Stundenkräfte in der häuslichen Pflege einsetzte oder darauf hoffte, dass Angehörige sich unbezahlt aufopfern.

Es ist sicherlich ein Erfolg, dass im Zuge der Pflegereform zumindest eine bessere Bezahlung und mehr Personal in der Pflege angestrebt wird. Auch das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes ist eine Ermutigung für ausländische Pflegekräfte, sich gegen ihre oft unwürdigen Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen. Politisch zu beantworten bleibt aber die Frage, wie wir gesamtgesellschaftlich auf die beschriebene ökonomische Entwicklung antworten wollen. Denn die Care-Ökonomie und die Güter-Ökonomie werden weiter auseinanderdriften. Vereinzelte steuerliche Bezuschussungen zur Pflegeversicherung oder die Anhebung der Beiträge für einzelne Versicherungsgruppen um ein paar Prozentpunkte werden auf lange Sicht wohl kaum zur Finanzierung der Pflege reichen.

Nachhaltiger wäre da die längst überfällige Einführung einer einkommensabhängigen Bürgerversicherung. Doch damit allein wäre das komplexe Ineinandergreifen wertschöpfungsstarker und wertschöpfungsschwacher Wirtschaftssektoren nicht adressiert. Bei der Entwicklung nachhaltiger Finanzierungskonzepte für die Pflege besteht die Aufgabe möglicherweise darin, nach Umverteilungsmechanismen zwischen diesen Wirtschaftssektoren zu suchen und dabei gerade nicht die betriebswirtschaftlichen Instrumente der Güter-Ökonomie als Maßstab zu nutzen, sondern von den Notwendigkeiten und Zeitlogiken in der Care-Ökonomie auszugehen. Im Idealfall würden Zeitungen auf ihren Titelseiten in Zukunft dann nicht mehr mit Zynismus, Panik und Untergangsstimmung auf verbesserte Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte reagieren, sondern mit einem erleichterten: Na endlich!

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