Erfolgreich auf dem weichen Weg

Im Judo ist Japan als Ursprungsland dieses Sports ganz vorn dabei - nicht immer mit feinen Methoden

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

»Entscheidend werden die Ruhephasen sein«, mahnt ein Experte im Anzug, der früher selbst auf der Matte stand. »Technisch gehören unsere Athleten sowieso zu den besten. Sie müssen nur im richtigen Moment fit sein.« In einem Nudelrestaurant in Tokios Bezirk Shinjuku, wo diese Diskussion zur sportlichen Lage der Nation um die Mittagszeit auf einem Großbildfernseher läuft, horcht die Betreiberin plötzlich auf. Eben war sie noch gegen die Spiele. Zu gefährlich in der Pandemie, zu seelenlos vor leeren Rängen. Aber jetzt sagt sie: »Ah! Dann hoffe ich, dass unsere Sportler jetzt gut ausgeschlafen sind!«

So ähnlich geht es im Gastgeberland vielen Menschen. Bei den kontroversen Olympischen Spielen, die die Mehrheit der japanischen Bevölkerung lieber abgesagt hätte, ist Judo der Sport, durch den ein Funke überspringen könnte, der dann doch noch für Stimmung sorgt. Seit Sonnabend laufen die Wettkämpfe auf den gelben Matten im Nippon Budokan. Und im überwiegend patriotischen Japan begeistert es, wenn die heimatlichen Kämpferinnen und Kämpfer hier die nationale Ehre verteidigen. Zumindest die Experten in Japan sind davon ausgegangen, dass dies gelingen würde. Der Kampfsport Judo ist schließlich jene Disziplin, in der Japan historisch mit Abstand am meisten Medaillen gewonnen hat. Und mehrere Athleten aus Japan gehören zu den Favoriten. An den ersten drei Wettkampftagen haben vier von ihnen auch schon Gold gewonnen: Naohisa Takato in der Gewichtsklasse bis 60 Kilogramm sowie die Geschwister Abe - Uta bei den Frauen in Klasse bis 52 Kilogramm und ihr Bruder Hifumi in der Klasse bis 66 Kilogramm. Am Montag siegte dann Shohei Ono in der Klasse bis 73 Kilogramm.

Von den 15 Goldmedaillen, die im Judo vergeben werden, könnte Japan mehr als die Hälfte gewinnen, schätzt und hofft man im Gastgeberland. Denn auch wenn die Welt längst zum Ursprungsland des Judo aufgeschlossen hat, gibt es hier doch Strukturen, die man wohl nirgendwo sonst vorfindet. Fast jedes Mädchen und jeder Junge hat Judo mal als Kind ausprobiert. Und schnell wird aus einem Reinschnuppern dann strenger Drill. »Du stehst nicht richtig«, werden Schüler oft zurechtgewiesen. »Mach erst mal eine richtige Verbeugung!« Die Hierarchien im Judo sind steil, man spricht in Japan nicht von Sportlern und Trainern, sondern von Schülern und Lehrern. Letztgenannter hat Verantwortung über den Erfolg im Kampf hinaus. Erst wenn sich ein Nachwuchsathlet nach scheinbar endlosen Wiederholungen ein anspruchsvolles Grundgerüst an Verhaltensweisen antrainiert hat, wird ihm das Kräftemessen mit einem Gegner erlaubt.

Wie mehrere andere japanische Kampfsportarten stammt Judo vom Jiu Jitsu ab. Im 17. Jahrhundert, als das Land eine letztlich 250 Jahre währende Isolationsperiode ohne viel Austausch mit dem Rest der Welt erlebte, blühten diverse Praktiken auf, die heute als traditionell japanisch gelten. Darunter auch Jiu Jitsu, eine Kampfkunst, die die Samurai nutzten, wenn sie ihre Waffen verloren hatten. Der Name bedeutet übersetzt »weiche Technik«. Die Grundidee, die den Idealen der Samurai entspricht: Nachgeben, um zu gewinnen. Meister der Technik entwickelten hieraus im 19. und frühen 20. Jahrhundert neue Disziplinen, allen voran Judo und Aikido. Das Prinzip ist das gleiche. Es geht nicht um Kraft, sondern um Technik. Nicht um Schläge, sondern um das Umleiten von Energie. Vor allem Judo - übersetzt »der weiche Weg« - setzte sich schnell in der japanischen Gesellschaft durch. Ähnlich wie in Europa das Turnen wurde es zu einer Art Ertüchtigungssport, der in Schulen gelehrt wurde. Heute wählen Schüler oft zwischen Aikido oder Judo, der Schlagstocktechnik Kendo oder der Bogenschießkunst Kyudo aus. Für Polizisten geht das Lernen in der Ausbildung weiter - hier ist es meist Judo.

Olympisch ist die Kampftechnik seit 1964, als Tokio erstmals die Sommerspiele veranstaltete. Ihr Stellenwert bei den Spielen in diesem Sommer dürfte von keiner anderen Sportart übertroffen werden. Denn auch wenn Judo in Japan nicht mal annähernd der populärste Zuschauersport ist, kennt ihn doch jeder aus eigener Erfahrung.

Allerdings steckt der Sport seit Längerem in einer Krise. Das harte Training und das Befolgen eines strengen Protokolls ist über die letzten Jahrzehnte immer mal wieder zu weit gegangen. Wer im Training den Lehrer nicht überzeugt, wird nicht selten misshandelt oder zu Strafaufgaben verdonnert. Die japanische Opfervereinigung von Judounfällen dokumentierte zwischen 1983 und 2016, dass es zu 121 Todesfällen im Judounterricht gekommen ist. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtete zuletzt, dass in Japan der Missbrauch als Strafe auch anderen Sportarten nicht fremd ist. Yasuhiro Yamashita, Goldmedaillengewinner 1984 in Los Angeles und Vorsitzender des Japanischen Olympischen Komitees, sieht seinen Sport deshalb in Gefahr. Der Nachrichtenagentur AP sagte der höchste Sportfunktionär des Landes: »Es ist wirklich unangenehm, dass Judo nun wie ein gefährlicher Sport aussieht. Die japanische Judoszene muss das sehr ernst nehmen.«

Denn eigentlich hat sich Judo schon vor Jahrzehnten von einer potenziell gefährlichen Technik wegentwickelt. Mit der Aufnahme ins olympische Programm wurden diverse Griffe, bei denen die Verletzungsgefahr zu hoch schien, verboten. Traditionalisten des Judo kritisieren daher, die Technik habe ihren Charakter verloren. Aber für ein paar Goldmedaillen lassen sich die meisten Zuschauer trotzdem erwärmen.

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