Werbung

Das Beste kommt zum Schluss

Malaika Mihambo gewinnt nach einem schweren Jahr den Weitsprung

  • Michael Wilkening, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

Um zu erahnen, wie eng Freude und Leid an diesem Dienstag im Olympiastadion voneinander entfernt lagen, reichte ein Blick auf den Absprungbalken beim Weitsprung. Der Bereich, den die Springerinnen mit dem Schuh berühren durften, ehe der Versuch als ungültig erklärt wird, misst 20 Zentimeter. Eben jene 20 Zentimeter Abstand lagen im Finale der Frauen zwischen der Olympiasiegerin und der Achtplatzierten Jazmin Sawyers aus Großbritannien. So knapp war eine olympische Entscheidung in dieser Disziplin noch nie, so dass Malaika Mihambo Glück benötigte, um sich in die Geschichtsbücher zu springen. Es war aber kein Zufall, dass der Deutschen ganz am Ende des Wettkampfes der weiteste Satz in die Sprunggrube von Tokio gelang. Mit einem Sieben-Meter-Satz im sechsten Versuch kürte sich die Frau aus Oftersheim zur Olympiasiegerin.

»Ich habe bis zum Schluss daran geglaubt«, sagte die 27-Jährige einige Zeit nach ihrem goldenen Sekundenflug. Mihambo hat sich in den vergangenen Jahren die psychische Stärke angeeignet, noch einmal zurückschlagen zu können, wenn der Konkurrenz erst die körperliche und damit einhergehend auch die mentale Kraft abhandenkommt. Nach den zurückliegenden Monaten war allerdings nicht absehbar gewesen, ob sie diese spezielle Qualität auch bei den Olympischen Spielen würde zeigen können. Mihambo war aus dem Tritt geraten.

In dem Moment, der sie zu einem der größten deutschen Sportstars aufsteigen lässt, zählte das alles nichts mehr. Mihambo stand zum letzten Mal am Anlauf, und es gab ihr, wie sie nachher einräumte, ein Gefühl der Ruhe, dass ihr zumindest eine Bronzemedaille sicher war. Seit ihrem zweiten Sprung hatte sie auf Medaillenkurs gelegen, 6,95 Meter hätten den dritten Platz bedeutet. Die Konkurrentinnen hinter ihr hatten den Wettbewerb bereits beendet, von hinten drohte keine Gefahr mehr.

Unabhängig von ihrem letzten Versuch würde sie Tokio nicht als Geschlagene verlassen, wenngleich nicht als strahlende Siegerin. Nach einem Jahr der Verunsicherung waren für die Europameisterin von 2018 und Weltmeisterin von 2019, die die deutsche Öffentlichkeit und sich selbst ans Gewinnen gewöhnt hatte, die Olympischen Spiele ohne Edelmetall denkbar geworden. »Es war etwas holprig«, hatte Mihambo vor dem Abflug nach Tokio eingeräumt. In ihrer besten Saison, die sie mit dem WM-Titel gekrönt hatte, war sie 2019 dauerhaft über die Sieben-Meter-Marke geflogen, die bei den Frauen eine magische Grenze darstellt. Bis auf 7,30 Meter war sie gekommen, der Konkurrenz damit meilenweit enteilt.

Im Jahr 2021 war ihr das nicht mehr gelungen. Nach dem WM-Gold verließ ihr langjähriger Trainer Ralf Weber »aus persönlichen Gründen« das erfolgreiche Gespann, eine angedachte Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Superstar Carl Lewis kam coronabedingt bislang nicht zustande. Mihambo wirkte verunsichert, der Anlauf funktionierte nicht mehr. Wenn das Vertrauen in die Schrittlängen vor dem Absprung nicht mehr vorhanden ist, kommen Weitspringer wie Tennisspieler ins Straucheln, denen der erste Aufschlag nicht mehr gelingen will. »Ich hatte Selbstzweifel«, gab sie im Bauch des Olympiastadions zu, als die Goldmedaille um ihren Hals baumelte.

Sieben Meter erreichte sie in der laufenden Saison lange nicht, das Feld der Konkurrentinnen schob sich zusammen. Im olympischen Finale verdichtete sich alles noch einmal, Mihambos 6,95 Meter vor dem letzten Sprung waren zwei Zentimeter schlechter als die Weiten von Brittney Reese (USA) und Ese Brume (Nigeria), aber auch nur vier Zentimeter besser als die Leistung der Vierten Ivana Spanovic (Kroatien). Eine Fingernagelbreite trennte Mihambo vom Olympiasieg, und gleichzeitig von der Medaillenlosigkeit.

An den winzigen Abständen änderte sich nach ihrem Sprung nichts, aber dank der 7,00 Meter führte sie den Kampf nun an. In den finalen Wochen vor dem olympischen Wettkampf hatte Mihambo die Zweifel überwunden und gleichzeitig einen Weg gefunden, um mit der Erwartungshaltung umzugehen. »Ich bin eine gute Sportlerin und ich mag mich als Mensch. Ich muss nicht Gold gewinnen, um glücklich zu sein«, sagte die 27-Jährige. »Das zu realisieren, hat mir heute die Lockerheit in diesem Finale gegeben.« Im letzten Durchgang wirkte Mihambo befreit. Der Anlauf funktionierte wieder nicht perfekt, letztlich sprang die Deutsche 19 Zentimeter zu früh ab, aber es war so viel Energie in ihrem Körper, dass sie 7,19 Meter weit flog - und exakt sieben Meter gemessen wurden. »Ich glaube, das war eines der spannendsten Weitsprungfinals überhaupt«, sagte Mihambo später - und lächelte.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal