Wo bleibt die Anerkennung?

Wie soll man heutzutage über Literatur schreiben oder reden? Anmerkungen zur »Midcult«-Debatte

  • Jens Buchholz
  • Lesedauer: 7 Min.

Form und Inhalt, das ist eine alte Frage, die immer wieder neu diskutiert wird. Und was ist mit der Rezeption? Wie soll man heutzutage über Literatur schreiben oder reden? Kurz vor den Sommerferien hat der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler in der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik« den Essay »Der neue Midcult« veröffentlicht. Darin kritisiert er, dass Literatur nicht mehr nach ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt werde, sondern nach außerliterarischen Kriterien.

Als Beispiel für diese Haltung führt er die Literaturwissenschaftlerin Amy Hungerford an. Sie hatte nach der Lektüre einer Biografie von David Foster Wallace festgestellt, dass der ein problematisches Verhältnis zu Frauen gehabt habe. Daraus habe sie die Frage abgeleitet, ob man diesen Autor dann überhaupt noch lesen dürfe.

Es gehe nicht darum, ob die Werke von David Foster Wallace nach literaturwissenschaftlichen Kriterien schlecht seien, erklärt nun Baßler Hungerfords Haltung, sondern um »… einen inhaltlich-ethischen Komplex, einen Kreis von Lebensanschauungen (…), der für sie wichtig ist«. Das persönlich wertende Urteil werde über die literaturwissenschaftliche Analyse gestellt. Diese Haltung entdeckt er sowohl bei verschiedenen Kritiker*innen in den Feuilletons als auch in den Leseforen im Internet. Baßler glaubt, dass es eine Literatur gibt, die genau diese Haltung bedient.

Das sind für ihn Romane, die sich zwar großer und schwerer Themen annehmen, ihnen aber formal nicht gewachsen seien. Als Beispiele nennt er Takis Würgers viel diskutierten Roman »Stella«, der sich mit dem Nationalsozialismus befasst, außerdem Anke Stellings »Schäfchen im Trockenen«, der sich mit Freundschaft, Gentrifizierung und Lebensplanung beschäftigt, und »1000 Serpentinen Angst« von Olivia Wenzel, der von alltäglichem Rassismus und Diskriminierung berichtet. Diese Bücher, meint Baßler, seien eine Form der Literatur, die ihre Leserschaft auf ethisch-moralischem Niveau überrumple, weil sich eine Kritik an den Themen Nationalsozialismus, persönliches Scheitern oder Rassismus verbiete. Außerdem bedienten diese Bücher inhaltlich-ethisch passgenau den Erwartungshorizont ihrer Leser*innen. Das Buch und die Leser*innen sind einer Meinung. Beide fühlen sich wohl miteinander. Da störe eine Kritik nach literaturwissenschaftlichen Kriterien und werde als elitäres Gemecker ausgehebelt.

Ein solches Misstrauen nicht nur gegenüber der etablierten Literaturwissenschaft ist für Baßler eine Signatur unserer Gegenwart, »wenn wir auf die Armee der selbst ernannten Querdenker und geistigen Exilanten, der Aluhütchenträger und Rechtsausleger schauen, die weltweit derzeit die Nachrichten beherrscht, dann können wir schlecht so tun, als ob die Verachtung von Bildungseliten, Wissenschaft und generell durch Ausbildung qualifizierten Positionen ein Problem allein der Literaturkritik wäre.« Es gibt also, laut Baßler, einen neuen, elitenfeindlichen Blick und eine dazu passende perspektivisch eindimensionale Literatur.

Um diese neue Wohlfühlliteratur begrifflich zu erfassen, hat Baßler den Begriff »Midcult« gewählt. Der Begriff geht zurück auf Dwight Macdonald (1906–1982), das philosophische One-Hit-Wonder aus New York. Der bezeichnete damit Romane, die den Leser*innen das Gefühl vermitteln, sie seien Hochkultur, dies aber eigentlich nur vortäuschen. Bei Baßlers »neuem Midcult« geht es nicht mehr nur um das Gefühl der Teilhabe an Hochkultur, es geht darum, Teil einer ethisch-moralischen Gemeinschaft zu sein. Es geht um Identität.

Der »neue Midcult« erhebt den eigenen ethisch-moralischen Blick zur einzig möglichen Perspektive. Baßler erläutert das anhand von Anke Stellings Roman »Schäfchen im Trockenen«, den er als »Schwäbisch-Berliner Boheme-Leftism-gone-sour mit hohem Mimimi-Faktor« bezeichnet. Stelling erzählt in Ich-Perspektive von einem gescheiterten Wohnprojekt, das ihre Protagonistin einsam und gescheitert zurücklässt. »Auf subtile Weise bringt die Ich-Erzählerin Handeln und Motivation der anderen (Romanfiguren) nun aber mit Fragen von Klasse, Gender und Gewalt zusammen«, erklärt Baßler. Die Ich-Erzählerin sieht sich als Opfer der anderen Romanfiguren. Mit einem Begriff von Thomas Edlinger bezeichnet Baßler diese Perspektive als »opfernarzisstische Hyperkritik«.

Mit seinem Essay hat Baßler diesen Sommer eine Debatte ausgelöst. Das liegt auch daran, dass der Begriff »Midcult« unglücklich gewählt ist. Er legt eine Unterscheidung zwischen Hochkultur und Massenkultur nahe. Aber daran hat Baßler kein Interesse, das hat er immer wieder betont. Marie Schmidt wirft Baßler in der »Süddeutschen Zeitung« in Bezug auf Olivia Wenzel eine »Täter-Opfer-Umkehr« vor. Wenzel ist eine Person of Colour. Baßler beschäftigt sich mit einer Szene, in der die Romanheldin an einem Badesee auf Nazis trifft. Er bemängelt die aus seiner Sicht klischeehafte Beschreibung der Nazis. Ihn interessiere an dieser Stelle auch die »Unsicherheit dieser Männer«. Und das macht ihn in diesem Fall leicht angreifbar. »Poetische Gerechtigkeit«, erklärt Schmidt, »muss sich nicht an jedem Nazi einzeln beweisen.« Mit dieser Argumentation verfährt sie aber genau so, wie Baßler es beschreibt: Sie reagiert moralisch auf eine Kritik an der Form.

Ein weiteres und größeres Problem von Baßler zeigte sich im Interview mit Jan Wiele von der FAZ. Baßler beschreibt hier, wie die Midcult-Literatur seiner Ansicht nach auf die Leser*innen wirkt. »Wir werden in die Perspektive des Opfers und damit in die Identifikation gezwungen«, erklärt er, »womit wir sozusagen strukturell immer schon im Recht sind.« Ist ein Roman in der Lage, seiner Leserschaft eine Perspektive aufzuzwingen? Autor*innen mögen eine*n impliziten Leser*in vor Augen haben, während sie ihren Text verfassen, aber durch den Wald der Fiktionen geht jede*r Leser*in auf eigenen Pfaden.

So wichtig Baßlers Essay und die Debatte um ihn sind, die Leser*innen werden dabei vergessen. Sie werden lediglich als beinflussbare Konsument*innen vorausgesetzt. Der Untertitel von Baßlers Essay lautet »Vom Wandel populärer Leserschaften als Herausforderung der Kritik«. Müsste die Literaturwissenschaft sich nicht fragen, was die Leserschaft aus der Lektüre von Takis Würger, Anke Stelling oder Olivia Wenzel macht? Könnte sie nicht einfach mit den Leser*innen sprechen?

Vielleicht in der Art wie es die britische Soziologin Marie Gillespie mit der australischen Endlos-Fernsehserie »Neighbours«, die seit 1985 läuft, gemacht hat? Sie wollte wissen, wie migrantische Jugendliche die rein weiß besetzte Serie rezipieren. Rezeption, fand sie heraus, finde nicht im Status der Identifikation statt, sondern in dem der Assoziation.

Gillespie stellte fest, dass die jungen Menschen die Handlung der Serie mit ihren eigenen Erfahrungen und ethisch-moralischen Werten abglichen und sich dadurch erst ihrer eigenen Werte bewusst wurden. Wenn ein Kunstwerk im Alltag der Rezipienten eine Rolle spielt, wird es »bedeutend«, weil es den Leser*innen erst dann etwas bedeutet. Aber diese Bedeutung ist völlig unabhängig von der textimpliziten Leser*in, welche die Autor*innen beim Schreiben vor Augen hatten. Es geht nicht um Identifikation, es geht um Assoziation.

Bücher werden heute ähnlich wie Popmusik vermarktet und konsumiert. Die Autor*innen und ihr Image beeinflussen die Rezeption. Besondere Konjunktur haben derzeit autobiografische und autofiktionale Erzählungen. Diese Bücher kommen der Popmusik sehr nahe, weil es auch in jedem Popsong und bei jedem Popstarimage um eine Selbstfiktionalisierung geht. Der Popstar, meint der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, sagt »Ich« und meint auch »Ich«, benutzt dafür aber Formen der Fiktion. Genau das tun die autofiktionalen Autor*innen ebenfalls. Einige der von Baßler zum neuen Midcult gezählten Autor*innen wie Karl Ove Knausgard oder Olivia Wenzel fallen unter diese Kategorie.

Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen hat in einem Artikel für die »Zeit« eine ähnliche Beobachtung gemacht wie Baßler: Die Literaturkritik schweige bei solchen Texten oft, weil das Ethisch-Moralische darin so schwer wiegt, dass man sich kaum traut, dessen Form zu kritisieren. Aber Franzen sieht darin eine Krise der Fiktionalität. Wie kritisiert man Geschichten, die Biografien oder Fakten fiktionalisieren? Die also das tun, was Wenzel, Stelling und Würger tun?

Franzens Vorschlag ist schlicht, aber bestechend. Man kann den Autor*innen einfach folgendes sagen: »Ich erkenne deine Erfahrung an, aber die Art und Weise, wie du sie erzählst, gefällt mir nicht.« Die Trennung zwischen dem Ethisch-Moralischen und der literaturwissenschaftlichen Qualität eines Textes bleiben so möglich. Und die Integrität ihrer Leser*innen bleibt in dieser Form gewahrt.

Kunstvolle Verrisse im Feuilleton bereiten ihren Leser*innen einen wohlig-gruseligen Genuss. Den Autor*innen werden sie nicht gerecht. Und wenn Leser*innen das als arrogant und elitär empfinden, dann haben sie damit recht. Ein Verriss ist keine Kritik, sondern eher literarisches Mobbing. Anerkennung für die Autor*innen, Anerkennung für deren Anliegen, die Darlegung der Gründe für eine kritische Haltung zur Form und Sichtbarmachung eines persönlichen Standpunktes würden es Autor*innen, dem Buchhandel und der Leserschaft leichter machen, Kritik aus dem Feuilleton und aus der Literaturwissenschaft anzunehmen und gegenseitige Achtung leichter machen. Das gilt auch für die Kritik an den ethisch-moralischen Anliegen von Autor*innen.

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