Das Leben danach

Im Ahrtal gibt es nach der Flutkatastrophe mancherorts wieder Hoffnung

  • Sebastian Haak, Rech
  • Lesedauer: 8 Min.

Oben wird gelitten. Unten wird Erlittenes beseitigt. Oben schmerzt es in den Ohren. Unten gibt es Hoffnung, wenn Helfer des Technischen Hilfswerks gerade dabei sind, eine neue Brücke über die Ahr zu bauen - und wie Pia und Menno van den Brekel davon erzählen, dass sie es mit ihrem Fachwerkhaus noch einmal versuchen werden.

In dem zweistöckigen Gebäude der van den Brekels pfeift der Wind kalt durch die Außenmauern, die an vielen Stellen offen sind, weil der Lehm fehlt. Den Lehm, den das Wasser nicht fortgespült hat, haben die beiden Physiotherapeuten zusammen mit Helfern selbst aus den Wänden gekratzt. Das hilft beim Trocknen des Inneren des Hauses. Die Löcher haben aber auch dem kleinen Vogel den Weg in den Innenraum des Gebäudes frei gemacht, der fröhlich von einer Wand zur anderen fliegt, als die beiden erzählen, dass sie das Haus vor 26 Jahren gekauft haben.

»Wir sind da naiv rangegangen, haben einfach gemacht«, sagt Menno van den Brekel. Immerhin, meint seine Frau, hätten sie einen Monat nach dem Kauf schon einziehen können. Dann hätten sie das Haus Stück für Stück saniert. Nun fangen sie noch mal ganz von vorne damit an. Bei null. »Eigentlich sogar unterhalb von null«, sagt Gerhard Schreier, der erste Beigeordnete des Bürgermeisters von Rech. Denn der Fußboden, auf dem er im Haus der van den Brekels steht, ist eigentlich kein Fußboden mehr. Was dort mal war, ist inzwischen herausgerissen, herausgehämmert, herausgestemmt worden. Man steht nun auf Steinen.

Rech, der Ort, in dem das Haus der van den Brekels steht, ist eines der kleinen Weindörfer an der Ahr, die von der Flut am schlimmsten betroffen sind, die das gesamte Ahrtal Mitte Juli verwüstet hat und nachhaltig prägen wird. Eine Jahrhundertkatastrophe, keine Frage. Doch solche abstrahierenden, einordnen Beschreibungen helfen nur wenig, wenn man wie die van den Brekels in den vergangenen Wochen von Tag zu Tag denken, leben und dabei ganz trivial anmutende Fragen beantworten musste: Wo schlafen? Wo essen? Wie viel Schlamm muss noch raus? Bei den van den Brekels ging es um Existenzielles, schließlich war ihr Haus unbewohnbar.

In solchen Momenten ändert sich das Leben grundlegend. Man muss Dinge tun, zu denen man sonst nicht bereit gewesen wäre. Wie Spenden annehmen, zum Beispiel. Jahrelang, erzählen van den Brekels, hätten sie im Rahmen eines jährlich stattfinden Dorffestes selbst geholfen, Spenden für die Krebshilfe zu sammeln. Etwa 100 000 Euro seien dabei mit der Zeit zusammengekommen. »Jetzt stehen wir auf der anderen Seite«, sagt Menno van den Brekel. »Das ist sehr, sehr komisch.«

Als im Ort Sachspenden verteilt wurden, hatte Pia van den Brekel zunächst große Hemmungen zuzugreifen. Obwohl die Flut das Haus der Familie völlig zerstört hat und sie so vieles verloren haben. Eine Freundin rief ihr dann zu: »Jetzt stell dich nicht so an!«

Vom zweiten Stock des Fachwerkhauses der van den Brekels gelangt man an einem gespendeten Holzofen vorbei auf einen Balkon, von dem man eine prächtige Aussicht auf Rech hat. Ebenso wie der Blick von hier aus in die Weinberge schweifen kann, die das Dorf umgeben.

Dieses Panorama ist nicht nur schön, es offenbart auch eine gewisse Tragik. Weil der Blick nun bis hinunter zum Wasser reicht. Vor der Flut war das nicht möglich. Am Nachmittag des 14. Juli standen noch Häuser direkt am Ufer der Ahr, die man nun an vielen Stellen mit Gummistiefeln durchwaten könnte, ohne dabei nasse Füße zu bekommen. Am Morgen des 15. Juli waren mehrere dieser Häuser verschwunden. Weggerissen von einer Gewalt, die auch die alte steinerne Brücke in Rech völlig zerstört hat. Die Reste dieser Häuser sind inzwischen abgerissen worden. Das Haus der van den Brekels gehört nun zu denen, die auf dieser Seite der Ahr am dichtesten am Wasser stehen.

Aber diese Aussicht offenbart auch Gegensätze, die das Leben im Ahrtal rund drei Monate nach der Flut kennzeichnen. Es gibt eine Widersprüchlichkeit, die von unten und oben gekennzeichnet ist. Den sie hier im Ahrtal bewusst in Kauf nehmen. Den viele hier sogar wollen.

Unten im Tal entlang der Ahr werden noch immer die Spuren der Flutnacht beseitigt.

Hilfsorganisationen wie das Technische Hilfswerk oder das Deutsche Rote Kreuz sind noch immer da, bauen Brücken oder betreiben weiterhin Verpflegungsstützpunkte. Ein Wasserwerfer der Polizei fährt nach wie vor durch Rech und die umliegenden Dörfer und spült Schlamm sowie anderen Dreck von den Straßen. Die Dorfbewohner sind - wie die van den Brekels noch immer dabei - ihre Häuser trocken zu legen, Putz von den Wänden zu schlagen, Fußböden herauszureißen und den Wiederaufbau der Immobilien für die nächsten Monate und Jahre zu planen. Für viele ist das eine Mammutaufgabe. Unterstützt werden sie nach wie vor von unzähligen privaten Helfern aus ganz Deutschland. Manche schippen immer noch Schlamm. Andere schleppen völlig zerstörte Regale, Schränke und Sofas auf die Straßen. Immer noch werden auch zerstörte Autowracks geborgen.

Was freilich zu Ermüdung und Ermattung führt. Es gab eine Zeit, da war selbst bei Menno van den Brekel der Frust über das alles so groß, dass er hinschmeißen wollte, da er sich wünschte, die Flut hätte das Fachwerkhaus einfach komplett weggespült, damit er sich um den Wiederaufbau keine Gedanken mehr machen müsste. Diese Zeit ist inzwischen vorbei. Er und seine Frau wollen auf jeden Fall weiter in Rech leben, in diesem gerade neu entstehenden, schönen Haus.

Oben in den Weinbergen, die das Ahrtal einrahmen, wandern inzwischen wieder die Touristen.

An diesem Tag sind es besonders viele, weil ein Weinfest stattfindet, bei dem es junge und alte Menschen, manche mit Hunden, andere mit Kindern von Weinstand zu Weinstand zieht. Zu Fuß durch die Weinberge schlendernd, haben viele von ihnen halb leere Weinflaschen in den Händen. Zwei Frauen mittleren Alters tragen ihre Gläser in selbst gestrickten, rosafarbenen Halterungen um den Hals.

An einem dieser Weinstände, von dem man direkt auf das zerstörte Rech und die Aufräumarbeiten im Tal blicken kann, dröhnt ein deutscher Schlager durch den späten Herbstnachmittag. Einer, der auch von Leid erzählt. Wenngleich von einem ganz anderen als dem, das sie unten zu beseitigen versuchen. »Du hast mich tausendmal belogen«, heißt es in dem Lied von Andrea Berg. Der kalte Herbstwind weht Fetzen davon ins Tal.

Nun zeichnet es die Menschen in der Region aus, dass die meisten sich von diesen Gegensätzlichkeiten nicht abgestoßen fühlen, sondern sie als Teil des Lebens nach der Katastrophe begreifen. Nicht einmal, dass die angetrunkenen Touristen manchmal direkt durch die zerstörten Dörfer laufen, an Trümmerbergen und Aufräumenden vorbei, dort ihre Handys für Fotos zücken und in Busse steigen, die inzwischen wieder durchs Ahrtal rollen, stört viele der Einheimischen. Jedenfalls so lange nicht, wie die Touristen ein Mindestmaß an Respekt gegenüber dem echten Leid zeigen, das sich ihnen im Tal zeigt und das nicht nur kitschig besungen wird. Solange sie zum Beispiel keine Ruinenreste als Souvenirs mitnehmen, was es auch hin und wieder gibt.

Tatsächlich, sagt Gerhard Schreier, lebe an der Ahr eigentlich jeder direkt oder indirekt vom Tourismus. Er selbst direkt, weil er nicht nur Vertreter des Bürgermeisters ist, sondern in dem 600-Seelen-Dorf einen Winzerhof betreibt, in dem es auch mehrere Gästezimmer gibt. »Es braucht den Tourismus hier«, sagt er. »Wir wollen, dass die Menschen kommen, auch jetzt. Und die meisten Leute benehmen sich ja auch.«

Andere Kommunalpolitiker im Ahrtal sagen Ähnliches. Es habe in den vergangenen Wochen in der Region eine ausführliche Debatte darüber gegeben, ob Weinfeste und Verkostungen dieses Jahr trotz der Flut stattfinden sollten. Mit einem überwältigend-positiven Echo.

Eine Etage unterhalb des Balkons des Fachwerkhauses der van den Brekels war einmal der Garten der Familie. Gepflegter Rasen, ein kleiner Teich. Jetzt ist da eine aufgewühlte und zerfurchte Fläche voller Steine, an deren Rand die Tochter von Pia und Menno van den Brekel - Femke - steht. Auch sie gehört zu denen, die grundsätzlich kein Problem mit den Weinfesten und Touristen haben. Eben noch hat sie bunte Herzchen an eine Wand gesprüht.

Diese Herzchen sind ebenso Teil des Lebens danach an der Ahr.

Neben den Touristen kommen noch immer Menschen aus vielen Teilen der Republik, entweder über Hilfsorganisationen oder aber aus privater Initiative in die Region, um beim Beseitigen der noch vorhandenen Trümmer und beim Wiederaufbau zu helfen. An ungezählten Häusern im Ahrtal danken ihnen die Einheimischen mit bunten Widmungen oder Graffiti an Häuserwänden oder auf Transparenten.

Die Herzchen haben für Femke van den Brekel aber auch eine persönliche Bedeutung. Sie hat nämlich in den vergangenen Monaten ihr eigenes an einen dieser Helfer verloren: An einen jungen Mann, der aus Frankfurt am Main kommt und ein paar Tage nach der Flut das erste Mal im Ahrtal geholfen hat. Erst in Mayschoß und Ahrweiler. Später im Fachwerkhaus der Familie van den Brekel. »Wir haben uns am Presslufthammer kennengelernt«, sagt die junge Frau. Inzwischen ist er jedes Wochenende in Rech.

Das Leben nach der Flut bietet unten im Tal also auch Chancen, selbst wenn das große Leid beseitigt wird.

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