Drohnenkrieg im Nordirak

Die Türkei greift regelmäßig jesidische Gebiete um Stadt Sindschar an – internationale Reaktionen bleiben aus

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Innerhalb nur weniger Dezembertage hat die Türkei zweimal die Region Shingal im nordwestlichen Irak angegriffen. Am 11. Dezember bombardierten Flugzeuge das Gebäude der lokalen Volksversammlung in der Stadt Khanasor. Zwei Personen seien verwundet und das Haus zerstört worden, berichteten lokale Medien. Nadia’s Initiative, eine Nichtregierungsorganisation, die von der jesidischen Nobelpreisträgerin Nadia Murad gegründet wurde, verurteilte den Anschlag. »Die Türkei, ein Nato-Mitglied, terrorisiert die jesidische Bevölkerung, anstatt den IS zu bekämpfen«, erklärte die Organisation. Die internationale Gemeinschaft habe eine moralische Pflicht, sich gegen die türkische Aggression zu positionieren.

Erst am 7. Dezember hatten dazu türkische Kampfdrohnen gezielt Merwan Bedel, den Ko-Vorsitzenden des Autonomierats von Shingal, in der Stadt Xanesor getötet. In dem Auto befanden sich laut Berichten zwei Kinder von Bedel, die gerettet werden konnten. Die Koordination der jesidischen Gemeinschaft in Europa verurteilte den Angriff scharf und rief zu Protesten auf. Aktionen fanden unter anderem in Wesel, Bremen, Hannover, Oldenburg und Bielefeld statt.

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Die beiden Anschläge sind dabei nur die jüngsten in einer ganzen Reihe von völkerrechtswidrigen Übergriffen der Türkei. Mitte August hatte zuletzt ein Luftangriff in dem Dorf Sekaina ein Krankenhaus zerstört, mindestens fünf Menschen starben. Im August 2018 jagte eine Drohne das Auto des jesidischen PKK-Kommandanten Zekî Şengalî in die Luft. Der Einsatz von türkischen Drohnen und Kampfflugzeugen im Nordirak – wie auch in den Kriegsgebieten Syrien und Libyen – findet jedoch bereits seit Jahren statt, in der Regel ohne großen öffentlichen Aufschrei. Nach Angaben der im Nordirak ansässigen Menschenrechtsorganisation Christian Peacemaker Team (CPT) wurden zwischen 2015 und Februar 2021 bei türkischen Luftangriffen mindestens 99 Zivilpersonen getötet und 109 verletzt. Doch warum geht Ankara mit solcher Härte gegen die Region vor?

Im Sommer 2014 überfiel der Islamische Staat Shingal und verübte an der mehrheitlich jesidischen Bevölkerung, viele von ihnen sehen sich als Kurden, einen Völkermord. Die in der Gegend stationierten Peschmerga-Streitkräfte der Kurdischen Autonomieregierung des Nordiraks waren zuvor geflohen. Die Milizen der syrisch-kurdischen YPG/YPJ sowie die Guerillakräfte der PKK leisteten Widerstand und unterstützten die allein gelassene Zivilbevölkerung. Sie erkämpften einen Korridor nach Syrien, über den Tausende Menschen gerettet werden konnten. Die Milizen begannen daraufhin den Aufbau der lokalen jesidischen Bürgerwehr YBŞ, der Widerstandseinheiten Shingals. Sympathisierende Anwohner organisierten sich in Räten. Dies war der Türkei ein Dorn im Auge. Ankara wollte verhindern, dass sich der Einfluss der PKK im Nordirak weiter ausdehnte.

Durch die ideologische Nähe der YBŞ zur PKK entstand auch ein Konflikt mit der konservativen KDP, der Regierungspartei der Kurdischen Autonomieregierung im Nordirak. Diese arbeitet seit den 1990er Jahren eng mit der Türkei zusammen – was erklären mag, dass es kaum Wortmeldungen aus Erbil zu den türkischen Angriffen auf irakischem Territorium gibt. Auch die KDP will den Einfluss der konkurrierenden PKK verringern. Im Oktober 2020 schloss sie ein Abkommen mit der irakischen Zentralregierung. Man bekräftigte, die PKK aus der Region zu vertreiben und Shingal untereinander aufzuteilen.

Zu einem gewissen Grad sind die militärischen Einsätze der Türkei im Nordirak dabei auch formalisiert: 1992 erlaubte der irakische Diktator Saddam Hussein der Türkei, die PKK auf irakischem Territorium zu bekämpfen. Unter Vermittlung der USA wurde 1998 das Washington-Abkommen geschlossen, in dem sich die Autonomieregierung verpflichtete, die Türkei im Kampf gegen die PKK zu unterstützen. Dem türkischen Militär wurde erlaubt, 40 Kilometer tief ins Landesinnere des Iraks einzudringen. Mittlerweile betreibt die Türkei 37 Militärbasen im Nordirak. Laut Recherchen der Menschenrechtsorganisation CPT werden von dort aus die Drohnen gesteuert, die bei einem Großteil der Angriffe in Shingal zum Einsatz kommen.

Eine weitere Einheit in der unübersichtlichen Lage in der Region sind die Volksmobilisierungseinheiten, die PMU. Sie hatten sich ebenfalls an den Kämpfen gegen den IS beteiligt und sind danach geblieben. Formell unterstehen sie der irakischen Regierung, de facto sind sie jedoch eine Iran-loyale Miliz. Technisch ist die YBŞ-Bürgerwehr in die PMU eingebunden. Nichtsdestotrotz: Die PMU, die YBS und die KDP sind im Shingal aktiv. Alle politischen Kräfte erheben Anspruch auf die Region, die Bevölkerung ist gespalten. Die Türkei beteiligt sich militärisch an dem Machtkampf. Unter den Luftangriffen leiden derweil vor allem die Zivilisten.

Die kurdisch-irakische Politikwissenschaftlerin Vian, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, erklärte in einer Analyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung: »Die Türkei zeigt mit ihren Angriffen auf Shingal, dass sie im Irak jederzeit handeln kann, wie es ihr passt, ohne dies mit irakischen Sicherheitskräften absprechen zu müssen oder besondere Konsequenzen zu fürchten.« Es sei klar, dass es für die Menschen in der Region sieben Jahre nach dem Genozid »mit dieser Sicherheitslage keine Zukunftsaussichten« gebe. Die jüngsten Entwicklungen an der polnischen-belarusischen Grenze scheinen das zu bestätigen. Unter den Tausenden Schutzsuchenden, die hier versuchten, in die EU zu kommen, befanden sich auch zahlreiche Jesiden aus dem Nordirak.

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