»Wichtigster Wahn: Ist die Tür zu?«

Die wichtigsten Konsumprodukte und Kulturleistungen des Jahres. Das nd-Feuilleton blickt zurück aus dem Homeoffice

  • Lesedauer: 8 Min.

Bahareh Ebrahimi

Scholzomat des Jahres:
Die deutsche Politik – öde, einseitig, sich stets wiederholend, konventionell, nicht inspirierend … gähn
Schlimmste Homeoffice- Krankheit:
Im Arbeits-Chat (1): Schnell Sätze schreiben und wegschicken, erst danach noch mal lesen und gegebenenfalls hinterher korrigieren. Im Arbeits-Chat (2): Mit mir selbst weiterkommunizieren/-schreiben, wenn die Kolleg*innen nicht reagieren. Im Arbeits-Chat (3): Den Kolleg*innen Bescheid geben, dass ich kurz Pause mache, bleibe aber trotzdem am Platz und arbeite weiter.
Bester Film:
Bestes Roadmovie: »Nomadland« von Chloé Zhao (USA)
Beste Science-Fiction: »Ich bin dein Mensch« von Maria Schrader (Deutschland)
Beste Komödie: »Ninjababy« von Yngvild Sve Flikke (Norwegen)
Beste Dokumentation: »Writing with Fire« von Sushmit Ghosh und Rintu Thomas (Indien)
Bestes Buch:
»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«: Nicht das beste Buch, sondern das wichtigste Leseprojekt, das ich mir dieses Jahr vorgenommen hatte – in der Hoffnung, dass Marcel Proust manche unerträglichen Tage dieser Pandemie noch rettet. Hat er.
Beste Serie:
Vor Serien habe ich Angst, weil ich kaum damit aufhören kann, sobald ich mit der ersten Episode beginne – ich schaue weiter, bis ich umkippe. Das ist immer eine Qual. Aber zwei Indie-Serien kann ich empfehlen: »Would You Rather« (Frankreich) und »4 Feet High« (Argentinien).
Bestes Theaterstück:
Leider war ich dieses Jahr nicht im Theater. Aber eine Theaterszene im japanischen Film »Drive my Car« ist mir im Gedächtnis geblieben: Sonjas Monolog im letzten Akt von Tschechows »Onkel Wanja«, performt von einer Darstellerin in koreanischer Gebärdensprache, hinter ihr auf der Leinwand die Übersetzung in allen möglichen asiatischen Sprachen, aber auch in Englisch. Und bei mir im Kopf auf Persisch, dazu auf dem Bildschirm noch im deutschen Untertitel. Ein lautes Spracherlebnis in kompletter Stille.
Bestes Frühstück:
Kaffee und Keks auf der Fähre
Wichtigster Wahn:
In Restaurants nicht drinnen essen
Dümmstes Wort:
»3G«
Der letzte Traum:
Untergang der Diktaturen

Stephan Fischer

Scholzomat des Jahres:
»Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase der Pandemie.«
Schlimmste Homeoffice-Krankheit:
Irgendwas mit Rücken und Nacken
Bester Film:
Ich habe im Jahr 2021 keinen einzigen Film gesehen.
Bestes Buch:
Dostojewskis »Dämonen« neu gelesen, ein Meisterwerk über Glauben, Atheismus und Kollektivismus. Frantzens »Crossroads« steht noch ungelesen im Regal, der neue Houellebecq kommt erst im Januar.
Beste Serie:
Bundespressekonferenz mit Wieler und Spahn, zweite Staffel
Bestes Theaterstück:
Wahlkampf 2021. Wie die Regisseure dabei über Wochen ohne Corona auskamen und die Sprechpuppen aller Parteien darüber schwiegen – phänomenal.
Bestes Frühstück:
Kein Frühstück.
Wichtigster Wahn:
Beherrschbarkeit und Vorhersehbarkeit von Ereignissen und Prozessen über die eigene Person und den Tag hinaus. Völlig illusorisch – aber ohne diese Illusion gibt es keine Hoffnung.
Dümmstes Wort:
Coronainzidenzmaßnahmenkritikerspaltungsimpfpflicht.
Der letzte Traum:
Solange man noch aufwacht, weiß man nicht, ob es der letzte war.

Christof Meueler

Scholzomaten des Jahres:
Jusos, die sich darüber freuten, dass die Wahlplakate der SPD nicht mehr orange, sondern rot waren.
Schlimmste Homeoffice- Krankheit:
Schnelles Umschaltspiel: Vom Rechner aufspringen, Abendessen kochen
Bester Film:
»Der Rausch« von Thomas Vinterberg. Weil Alkohol die beste und die schlimmste Droge ist.
Bestes Buch:
»Eurotrash« von Christian Kracht. Der diskrete Charme der Bourgeoisie: Kochwein trinken und Schlemmerfilet essen. Denn auf Distinktion durch Konsum achten nur die Neureichen und Möchtegerns.
Beste Serie:
»Squid Game«. Ein neomarxistisches Lehrstück über Armut, Unterhaltung und Barbarei.
Bestes Frühstück:
In der Theorie: Espresso, Cornetto. In der Praxis: Tee, Müsli, Schinkenbrot.
Wichtigster Wahn:
Ist die Tür zu?
Dümmster Ausdruck:
»Stand jetzt«
Der letzte Traum:
Gut schlafen

Christin Odoj

Scholzomat des Jahres:
Es kann nur einen geben. Mit welch buddhaartiger Gelassenheit Olaf Scholz innerparteiliche und politische Niederlagen in seiner Karriere wegignoriert und weiter Karriere macht, dann auch noch, dank der Dusseligkeit anderer, mit der schlichten Taktik der teilnehmenden Beobachtung ins Kanzleramt geschlittert ist, das ist schon einzigartig scholzomatisch.
Schlimmste Homeoffice- Krankheit:
Zum Kühlschrank laufen und gucken, ob es was Neues gibt.
Bester Film:
»Herr Bachmann und seine Klasse« von Maria Speth über einen Lehrer, der nie Lehrer sein wollte und deshalb der beste Lehrer geworden ist.
Bestes Buch:
Drei angefangene dieses Jahr (bisheriger Rekord): »Das Parfüm« von Patrick Süßkind. »Die Pest« von Albert Camus und »Ja okay, aber« von Peter Licht: Eine lakonische und amüsante Echtzeit-24-Stunden-Beobachtung von einem, der im Co-Working-Space zu leben scheint.
Beste Serie:
»Maid«. Aus europäischer Sicht scheint die Story wieder einen Grund zu liefern, mit dem Finger auf die blöden Amis zu zeigen, deren Sozialsystem noch maroder ist als ihre Infrastruktur. Doch die Serie zeigt nur, wie hart es ist, als alleinerziehende Mutter mit kleiner Tochter durchzukommen. Wenn Probleme eben keine dornigen Chancen sind, sondern einfach nur ein riesiger Haufen Probleme.
Bestes Theaterstück:
»So glücklich, dass du Angst bekommst« am Theater Chemnitz. Bestes Bürgertheater von Miriam Tscholl, in dem drei vietnamesische Gastarbeiterinnen von Verlust, Hoffnung und Anpassung erzählen. Geschichten, die uns Mehrheitskartoffeln immer noch viel zu wenig erzählt werden.
Bestes Frühstück:
Klassisches English Breakfast. Reicht bis abends und spart daher unheimlich Geld.
Wichtigster Wahn:
Dran denken, das Kuscheltier vom Kind mit in die Kita zu nehmen. Sonst drohen Wutausbrüche, die selbst Claus Peymann und Klaus Kinski peinlich gewesen wären.
Dümmstes Wort:
»Boostern.« Als wären wir Bruce Willis und sprängen danach aus einem brennenden Hubschrauber zurück ins Homeoffice.
Der letzte Traum:
Gendersternchen ins Grundgesetz

Karlen Vesper

Scholzomat des Jahres:
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Schlimmste Homeoffice-Krankheit:
Selbstausbeutung durch freiwillige Überstunden im Irrglauben, unentbehrlich zu sein.
Bester Film:
Sollte ein aufklärerischer sein. Glauben wir nicht alle, derzeit im falschen Film zu sein? Seit Corona Kinosäle und vieles mehr verschloss, darunter leider auch Herzen, Mitmenschlichkeit, Vernunft und Verstand.
Bestes Buch:
Das Buch des Lebens, das immer wieder überrascht und Fortsetzungen in Endlosschleife bietet. Bisher jedenfalls, trotz apokalyptischer, menschenverschuldeter Gefahren.
Beste Serie:
Gruselig und urkomisch zugleich: die Großen Zapfenstreiche der Bundeswehr – in diesem Jahr beginnend mit scheinheiliger Ehrung der Afghanistan-Legionäre, die 59 »Gefallene« nicht wieder zum Leben erweckte, und schaurig endend in schräger Intonierung von Rock & Pop durch eine Blechkapelle auf Wunsch zweier Damen: Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer. Beim Zapfenstreich für die glücklose Ex-Verteidigungsministerin reflektierten Fackelschein und Blech Smileys auf die martialischen Helmen der Militärmusiker. Spott auf oder Rache für AKKs Liedwahl? Sie hatte ganz unbescheiden »Die glorreichen Sieben«, Titelsong aus einem Western von 1960, sowie »Higher and Higher«, Hollywood-Schmonzette von 1943, geordert.
Bestes Theaterstück:
Auch in diesem Jahr, wie alle Jahre wieder: die Debatten im Deutschen Bundestag.
Bestes Frühstück:
»Alan’s Psychedelic Breakfast« von Pink Floyd: »Marmalade, I like Marmalade. Marmalade, I like Marmalade ...« Kein Schinken, keine Würste. And no coffee. James, I want to have a cup of tea, please.
Wichtigster Wahn:
Wie ein Hamster in seinem Laufrad leidenschaftlich oder stoisch sein Tagwerk, wo auch immer, zu verrichten, in der Hoffnung, es hilft »Menschen da draußen«, sich in dieser unwirtlichen Welt zu behaupten, die man derart womöglich gar ein bisschen freundlicher, friedlicher, gerechter und lebenswerter für alle modellieren kann.
Dümmstes Wort:
»Lügenpresse«
Der letzte Traum:
Einmal in 80 Tagen um die Welt reisen. Ohne Virus an Bord.

Erik Zielke

Scholzomat des Jahres:
Wenn der Kanzler sein Volk anspricht: »Liebe Börgerinnen und Börger« – das lässt das norddeutsche Herz höher schlagen.
Schlimmste Homeoffice- Krankheit:
Zwanghaftes Kontrollieren, ob die Laptopkamera wirklich ausgeschaltet ist.
Bester Film:
»Titane« von Julia Ducournau – viel Blut, viel Motoröl für nervenstarke Zuschauer.
Bestes Buch:
»Aliens & Anorexie« von Chris Kraus, ein Buch zwischen einem Porträt der Boheme in der Gegenwart und einer Hommage an Ulrike Meinhof.
Beste Serie:
Das dreiteilige Remake der Erfolgsserie »Eine schrecklich nette Familie« mit dem schlichten Titel »Das TV-Triell«.
Bestes Theaterstück:
»Der Idiot« (Regie: Johan Simons) am Thalia-Theater Hamburg. Dostojewskis Worte und Jens Harzers Spiel – mehr braucht das Theater nicht.
Bestes Frühstück:
Wie immer: Kaffee schwarz, ohne Milch, ohne Zucker
Wichtigster Wahn:
Corona-Selbsttest bis zum Nasenbluten
Dümmstes Wort:
»Zukunftsregierung«
Der letzte Traum:
Weltfrieden und getrüffelte Pasta für alle

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.